„Ich, das ästhetische Bewußtsein, das sich selbst ästhetisch nimmt" 1
Zur Selbstdarstellung in der zeitgenössischen Kunst
Zu den bahnbrechenden Neuerungen, die die Moderne der bildenden Kunst bescherte, zählt zum einen die erstmals von Marcel Duchamp und den Dadaisten bewußt aufgegriffene Tendenz der Kunst zur Selbstreferentialität, zum anderen, von seiten der Künstler, eine immer weitergehende Subjektivierung der künstlerischen Arbeit. Soziologisch spielte sich dieser Wandel vor dem Hintergrund einer grundlegenden Neuorientierung des Künstlers in seiner privaten und gesellschaftlichen Rolle ab. Nicht länger hatte er Auftraggebern aus Staat oder Kirche zu dienen, und in der Wahl seiner inhaltlichen und gestalterischen Mittel war er nicht länger durch diese eingeschränkt; er war ,freier" Unternehmer in einer bürgerlichen Gesellschaft. ,,Freiheit" lautet eine der Hauptforderungen der Moderne nicht nur hinsichtlich des Künstlerstatus, sondern auch und vor allem in Hinblick auf die Kunst selbst. Wer sich einer der zwischen 1900 und 1920 entstehenden Avantgardebewegungen anschloß, der tat dies in dem Bewußtsein, mit vereinten künstlerischen Kräften an der fonsehreitenden Emanzipation der Kunst, an der Autonomisierung ihrer ästhetischen Theorie und Praxis mitzuwirken.
Das eigentliche Verdienst der Moderne im Bereich der Kunst bestand in der Erweiterung ihres gestalterischen Repertoires. Der bisher zur Verfügung stehende Gattungskanon - Malerei, Skulptur, Zeichnung und Graphik - war fragwürdig, alt und zu eng geworden für die neuen Ideen und Inhalte; um ihnen Gestalt zu verleihen, griffen die Künstler zu bislang kunstfremden Materialien, Techniken und Medien: Collage, Assemblage und Montage, Ready-Made, Rauminstallation und Kinetik - dem avantgardistischen Trieb der Kubisten, Dadaisten, Konstruktivisten oder Surrealisten waren keine Grenzen gesetzt. Im Namen des Neuen und Neuesten erweiterten sie die Kunst in kürzester Zeit um nie gekannte Experimentierund Erfahrungsfelder.
Auch in dem intimeren Genre der Selbstdarstellung ließen mutige Künstler und Künstlerinnen die jahrhundertealte Bindung an das gemalte oder gemeißelte Selbstbildnis hinter sich und drängten auf unerschlossenes, experimentelles Terrain. Das eigene Ich, der eigene Körper wurden als Material, Inhalt und/oder Medium entdeckt und eingesetzt. Erste Performances und happeningähnliche Situationen fanden statt im Zusammenhang mit der subversiven Anti-Kunst-Bewegung des Dadaismus; Kurt Schwitters' theatralisch-parodistische Selbstinszenierungen, etwa bei der Rezitation seiner ,,Ursonate", die fotografische Selbstverwandlung, wie sie Marcel Duchamp in seinem androgynen Alter Ego „Rrose Selavy" vollzog, oder die als introspektive Selbstbefragungen unter dem Einfluß von Hypnose, Alkohol und Drogen durchgeführten Ego-Trips der Surrealisten wiesen den Weg für die Entwicklung der künstlerischen Selbstdarstellung im 20. Jahrhundert. Zurschaustellung, Verfremdung und Erforschung des Selbst, seltener auch Kritik daran haben Künstlerinnen und Künstler seitdem in vielfältiger Weise zu ästhetischer Erscheinung gebracht.
Zu eigenständigen Ausprägungen dieses Genres kam es dann nach dem Zweiten Weltkrieg, als viele Künstler sich auf die erste Avantgarde besannen, deren Errungenschaften sie mit radikaleren Methoden weiterzuentwickeln suchten. Vermehrt schlug sich die künstlerische Auseinandersetzung mit der eigenen Person nun in Handlungen, Aktionen und Inszenierungen nieder, die zunächst noch in anschaulichen künstlerischen Objekten resultierten. In den legendären Malperformances des action painters Jackson Pollock setzte sich der psychophysische Aspekt des surrealistischen Automatismus fort - seine Methode des ,,dripping" z.B. geht unmittelbar auf eine Erfindung von Max Ernst zurück. Doch lag nun ein weitaus stärkerer Akzent auf dem Prozeß der Bildentstehung selbst. Das fertige Kunstwerk besteht aus den Spuren einer künstlerischen Handlung, welche unmittelbar den improvisierten Gesten und willkürlichen Bewegungen des Künstlers entsprechen. Es wird zum Dokument eines Geschehens innerhalb eines Zeitabschnitts mit Anfang und Ende.
Während aber bei Pollock das Bild als Produkt eines künstlerischen Aktes seinen tradierten Stellenwert noch beibehielt, lenkte der Franzose Georges Mathieu das Augenmerk des Publikums beinahe gänzlich auf diese Handlung schlechthin:
,,Mehr Promotor und Agitator, hat er in spektakulären Auftritten und Malaktionen ... dem Publikum eine Malerei bekannt gemacht, in der sich ... die Emotionen des Künstlers und der ganze Reichtum eines nicht-formbaren Irrationalen äußern."2 Die Aktionen Mathieus und ähnlich arbeitender Zeitgenossen brachten ein Künstler-Klischee zu neuen Ehren, welches sich bereits in der italienischen Renaissance etabliert hatte: das Ideal vom Künstler als schöpferischem Genie, der sich im Augenblick der Eingebung selbstvergessen der Umsetzung seiner Vision hingibt. Marie Luise Syring spricht in diesem Zusammenhang, durchaus zu Recht, von dem in dergleichen Aktionen haltlos ,,überstrapazierten Geniebegriff'.3 Der Maschinenkünstler und Neue Realist Jean Tinguely machte den pseudogenialen Aktionismus der informellen Fünfziger-Szene dann zur Zielscheibe seines Spotts, indem er den Künstler kurzerhand durch einen elektrisch betriebenen Malautomaten ersetzte, der auch ganz beachtliche Bildchen zustandebrachte.
Gegen Ende der fünfziger Jahre erlebte die Kunst der westlichen Hemisphäre erneut einen merklichen Schub, der sie beinahe vollkommen wegtrieb von der Fixierung auf die überkommenen Kunstgattungen. „Kunst" manifestiere sich nun immer öfter in temporären Darstellungsformen ohne Objekt: ,,Process Art". Dahinter steckte der Gedanke, Lebensalltag und Kunstwerk unmittelbar miteinander zu verschränken: ,,Identität von Kunst und Leben"4 lautete eine Hauptforderung der sechziger Jahre. Zwar bereits von den Künstlern des Dadaismus formuliert und umgesetzt, gewann dieses Postulat nun, im zeitgeschichtlichen Kontext der Jugend-, Protest- und Studentenbewegungen. an Bedeutung und neuem Gehalt. Und waltete die Identität von Kunst und Leben nicht aufslebendigste im künstlerischen Subjekt selbst, in seinen Handlungen und Ideen? Seit Mitte der sechziger Jahre avancierte die Selbstdarstellung für immer mehr Künstlerinnen und Künstler zur treibenden Kraft ihres künstlerischen Schaffens. Als Verhaltensstrategie erwiesen sich bestimmte Formen von Selbstdarstellung überdies mehr und mehr als dienlich und verkaufsfördernd in dem aufblühenden Kunstmarktbetrieb der Wirtschaftswunderzeit.
Beträchtliches Selbstdarstellungstalent in beiderlei Hinsicht legte in jenen Jahren der Franzose Yves Klein an den Tag, der zwar, als Erfinder des Internationalen Klein-Blau (IKB), durchaus noch dem alten Medium ,,Bild" verbunden war, dessen Rahmen er aber durchbrach, wo er nur konnte. Seine Selbstinszenierungen grenzten manchmal an Magie - beispielsweise, als er im Oktober 1960 in Paris den ,,Sprung in die Leere" tollkühn als seinen eigenen Sprung durch ein Fenster vollführte. Kleins augenzwinkernd dargebotener Größenwahn ging soweit, daß er 1962 in einem sogenannten ,,rituellen Transfer von Immaterialität" von Kunstenthusiasten teuer bezahlte Goldbarren eigenhändig in die Seine warf. Klein hat als einer der ersten nach 1945 den Kunstmarkt und seine mächtig in Gang kommenden Mechanismen nicht nur durchschaut, sondern gnadenlos aufs Korn genommen und karikiert.
In dem Italiener Piero Manzoni fand Klein einen ebenbürtigen Mitspieler, wenn es um das geradezu dialektische Kunststück ging, Künstlerrolle und Kunstbetrieb ironisch zu demontieren - und doch zugleich selbst davon zu existieren. Rückblickend beschreibt Benjamin Buchloh ,,Gestalten wie Georges Mathieu und Yves Klein, ... Lucio Fontana und Piero Manzoni" als Künstler, „die eine Parodie des künstlerischen Rollenverhaltens mit jener Obsession betrieben, mit der diese Rolle zu Beginn der Avantgarde ursprünglich konstruiert worden war."5 In seinen Verkaufsaktionen von ,,Künstlerblut" in Ampullen, ,,Künstleratem" in Luftballons und ,,Künstlerscheiße in Dosen" (merda d'artista) 6 persiflierte Manzoni auf geradezu sarkastische Weise die naive Neigung des Publikums, sich unter dem Deckmantel des genialen Künstlertums jedes noch so notdürftige Künstlerprodukt andrehen zu lassen: ,,Mit seinen Aktionen betrieb er einen Mystizismus, der sich hauptsächlich um die eigene Person drehte 7 Manzoni konstruierte u.a. einen Sockel für eine ,,Scultura Vivente", der ausgewiesenermaßen dem Künstler selbst Erhöhung verschaffen sollte.
Mit diesem Sockel war die Idee von der ,,Lebenden Skulptur" geboren, die in den sechziger Jahren viele Künstlerinnen und Künstler zu außergewöhnlichen Performances inspirierte. Im April 1961 erklärte Timm Ulrichs sich selbst zum lebenden Kunstwerk und stellte sich, unter dem Motto ,,Ich als Kunstfigur", in seiner ,,Zimmergalerie" in Hannover aus). Auch der Franzose Ben Vautier erklärte sich selbst zum Exponat, begleitet von einem Schild mit der Aufschrift ,,Just look at me". Der Amerikaner Robert Morris baute 1962 eine sogenannte ,,I-Box", einen hölzernen Schrank, hinter dessen als lebensgroßer Buchstabe ,,1" geformten Türe man auf den Künstler höchstpersönlich stieß -freundlich grinsend und nackt, wie die Natur ihn schuf.
Nicht immer stand im Mittelpunkt solch künstlerischer Zurschaustellungen das wahre, authentische ,,Ich", das individuelle künstlerische Subjekt. Oft schlüpften die Künstler in Rollen, die es ihnen ermöglichten, ihr Selbst zu verbergen; sie agierten als Schauspieler, Darsteller oder schlicht als Ausführende ihrer eigenen Handlungsanweisungen. In Einzelfällen konnte eine solche Haltung in die totale Selbstentfremdung, ja Selbst-"Aufgabe", münden, wie im Falle des britischen Künstlerpaares Gilbert & George, das seit 1969 als ,,Living Sculpture" oder ,,Sin-ging Sculpture" auftrat und sehr bewußt ein Erscheinungsbild abgab, aus welchem jegliche Spur von persönlicher Individualität getilgt war: ,,Sie erklären nicht nur sich selber, sondern ihr ganzes Leben zum Kunstwerk und das heißt zur Skulptur. Sie ist Inbegriff der totalen Enthöhlung und Abstraktion des Lebens." 9
Doch auch das Gegenteil war der Fall; Künstlerinnen und Künstler veranstalteten schmerzhafte, ja in Einzelfällen sogar tödliche Selbstversuche, um mit ihrer Kunst innere wie äußere Grenzen zu überwinden und immer näher zu dem Unaussprechlichen des eigenen Ichs vorzudringen. Auf höchst provokante Weise geschah dies in den skandalösen ,,Abreaktionsspielen" und ,,psychomotorischen Aktionen" des Wiener ,,Orgien-Mysterien-Theaters" unter Leitung von Otto Mühl, bei denen u.a. Tiere geschlachtet und die Akteure mit deren Kot und Blut überschüttet wurden. Mühls Mitakteur, der Maler Hermann Nitsch, schrieb 1969 zu den Zielen des Wiener Aktionsimus: ,,Kunst ist Schärfung, Intensivierung, Sensibilisierung unserer Sinne, Erweiterung unserer Erlebnismöglichkeiten,“ 10 und an anderer Stelle: ,,Für mich ist es wichtig, daß der Spielteilnehmer durch die Aktion und durch die Materialien zu sinnlich intensivem Empfinden aufgefordert wird und daß er zu tiefen Schichten hinunterdringt, daß verdrängteBereiche ausagiert werden." 11 Bei anderen Mitgliedern des Wiener Aktionismus führte diese Kunstauffassung zu Aktionen der Selbstzerstömng und Selbstverstümmelung. Der Zeichner und Aktions51 künstler Günter Brus beschrieb damalssein Konzept schlagwortartig so: ,,Mein Körper ist die Absicht, mein Körper ist das Ereignis, mein Körper ist das Erlebnis." 12 1970 führte er in München seine Performance ,,Zerreißprobe" auf: ,,Brus, nackt bis auf Slip, Damenstrümpfe und ein weißes Tuch, schnitt mit einer Rasierklinge seinen Schenkel auf, wälzte sich rasch auf dem Boden, trank Urin aus einem Glas... , dann entkleidete er sich vollkommen und schnitt mit der Klinge in seinen kahlen Schädel." 13 .
Im Zuge der Frauen-Emanzipationsbewegung, die Anfang der siebziger Jahre einsetzte, traten dann vermehrt auch Künstlerinnen in die beinahe ausschließlich von Männern besetzte Szene ein; ihr Beitrag zur damaligen Kunst entsprang oft unmittelbar ihrer am eigenen Leibe erfahrenen und erlittenen Diskriminierung -sei es als Künstlerin oder als Frau schlechthin. Während die männlichen Protagonisten des Wiener Aktionismus ihre archaisch-blutigen Bilder von Schmerz, Gewalt und Tod selbstherrlich zu allgemeingültigen, ja parareligiösen Ritualen stilisierten, wurzelten die selbstquälerischen Aktionen mancher Künstlerinnen in höchst persönlichen, autobiographischen Erfahrungen. ,,Das Private öffentlich machen" lautete ein Motto der Frauenbewegung, welches es auch mit den Mitteln der Kunst zu realisieren galt. Performance, Fotografie oder Video boten sich zur Umsetzung an, und vielfach waren es weibliche Künstler, die zur Erschließung und künstlerischen Nutzung dieser damals noch relativ jungen Medien wesentliche Beiträge leisteten. Genannt seien z.B. Laurie Anderson, Cindy Sherman, Ulrike Rosenbach oder Katharina Sieverding. Gemeinsam und jede für sich entwickelten die Künstlerinnen der siebziger Jahre eine erstaunliche Bandbreite an neuen Ausdrucksmöglichkeiten, um ihrer weiblichen Identität authentischen künstlerischen Ausdruck zu verleihen.
Viele Künstlerinnen behandelten damals Themen, welche durchaus ihrem eigenen autobiographischen Horizont entstammten, zugleich aber prototypische Erfahrungen von Weiblichkeit verkörpern. Die Wienerin Valie Export etwa montierte 1976 Fotografien von sich selbst in Reproduktionen von Bildwerken und Gemälden ads der Kunstgeschichte, um diese mit der eigenen weiblichen Realität zu kontrastieren und so in ihrer Gültigkeit zu hinterfragen: ,,Nachstellungen".
Die Beuys-Schülerin und Feministin Ulrike Rosenbach begann 1972, sich des Mediums Video zu bedienen. In ihren damit aufgezeichneten Performances sowie in ihre Video-Installationen ist immer die Künstlerin selbst die Hauptdarstellerin. Unter Einsatz ihrer Sprache, Mimik, Gestik und ihrer Bewegungen entwarf Rosenbach Bildmetaphern für ihre Existenz als Frau. In ihrer für die Documenta 1977 inszenierten Arbeit ,,Herakles - Herkules - King Kong. Die Vorbilder der Mannsbilder" baute sie in die Achselhöhle einer überdimensional reproduzierten Herkules-Statue einen kleinen Monitor ein, auf dem sie selbst sehen und zu hören war mit dem monoton wiederholten Wort ,,Frau".
Auch die deutsche Künstlerin Annegret Soltau gehört zu denjenigen, die in den siebziger Jahren anfingen, Situationen aus ihrem persönlichen Erfahrungsbereich als Frau in künstlerische Bilder umzusetzen. Besonders der weibliche Körper und die Komplexität und Widersprüchlichkeit seiner gesellschaftlichen Rezeption inspirierten sie zu ihren Foto- und Videoarbeiten, in welchen ebenfalls die Künstlerin selbst als Protagonistin auftritt. Wie provokant und tabuverletzend ihre Arbeiten von der männlich dominierten Kultur auch heute noch empfunden werden, wurde jüngst eklatant deutlich, als der Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld sich weigerte, in einem Buch über weibliches Körperbewußtsein einen - vereinbarten - Künstlerinnenbeitrag Soltaus abzudrucken, dessen ,,bewußt verfolgte ,Ästhetik des Häßlichen' ... nicht seine Toleranz" fand. 14 Die zensierte Arbeit entstammt der Serie ,,generativ", in der Soltau sich in eindrucksvoller Weise mit der Zerrissenheit der Frauen zwischen dem männlich oktroyierten Schönheitsideal und dem eigenen Alterungsprozeß auseinandersetzt. Die Fotovernähung zeigt Soltau selbst im Kreise ihrer Tochter, Mutter und Großmutter, deren Gesichter und Brüste vertauscht und mit groben Stichen fragmentarisch mit den Körpern der anderen vernäht wurden. Die Serie ,,generativ" konfrontiert den Betrachter mit schockierenden Frauenbildern voller konträrer Assoziationen; Bildern, die das Gros des Establishments offenbar als unerträglich und verbannenswert empfindet. Letztlich ist dies, positiv gewendet, ein Zeichen für die Wirksamkeit und Sprengkraft engagierter Kunst. Peinlich für einen Verlag, wenn er es sich anmaßt, diese zu unterdrücken.
Dabei war Sexualität seit den siebziger Jahren ein Hauptthema des gesellschaftlichen Diskurses, welches, als Motiv künstlerischer Selbstdarstellung, zu frivolen und tabuverletzenden Umsetzungen geradezu herausforderte, die aber offensichtlich leichter toleriert wurden, wenn sie von Männern stammten. Beispielsweise von Jürgen Klauke, der in seinen fotografisch dokumentierten Performances und in seinen Fotoserien der siebziger und achtziger Jahre subversiv und sarkastisch die sexuellen Verklemmungen seiner vermeintlich ach so freizügigen Zeitgenossen bloßstellte - nach dem Motto „Dr. Müllers Sexshop oder: So stell' ich mir die Liebe vor" (1977). Mit den Mitteln der Travestie verwandelte sich Klauke in eine obszön geschmückte, in unsägliche Sex-Utensilien eingezwängte androgyne Kunstfigur.
Unendlich reichhaltig ist das Spektrum der Aktionsformen, Happenings, Events und Performances, die die Künstlerinnen und Künstler der siebziger und achtziger Jahre an und mit sich selbst durchführten. 15 Im Kontext der sich epidemieartig ausbreitenden Mediendiktatur kam es immer stärker darauf an, sich seiner selbst zu vergewissern und die eigene Person zu behaupten gegen die unablässige Flut von virtuellen Bildern. Am effektivsten gelang dies unter Einbeziehung dieser Medien selbst, welchen innerhalb d Kunst gewissermaßen die Doppelrolle zufiel, einerseits als künstlerische andererseits dokumentarisches Mittel 2 fungieren; so hielt z.B. der Fotokünstler Bernhard Johannes Blume seine Aktionen der ,,Selbstvergewisserung" mit dem Fotoapparat fest - zweifelhafte Dokumente seines ,,Versuches zu einer Wiedergewinnung des Leibes"; und der Fluxus-Künstler Diether Roth zeichne eine Zeit lang mit der Polaroidkamera journalartig seine Tagesabläufe auf.
Schließlich tauchten in den achtziger Jahren Künstler auf, die, in Reminiszenz an die Pop art, Mediensituationen so perfekt simulierten, daß die Frage nach der Grenzlinie nicht mehr beantwortbar war. Gewiß der größte Selbstdarsteller unter diesen postmodernen Protagonisten einer sich quasi selbst wegrationalisierenden ,,Kunst" war zweifellos Jeff Koons, dessen Stern genau so lange besser: so kurz - erstrahlte, wie es ihr gelang, die Medien bei der Stange zu halten - etwa durch seine Hochzeit mit dem italienischen Tausendschönchen llona ,,Cicciolina" Staller. Dabei ist der Künstler eigentlich gar kein richtiger Selbstdarsteller, denn selbst diese Arbeit überläßt er anderen - genau wie die Herstellung seiner monströsen Nippesfiguren. ,,Seit den Tagen des großen Yves Klein", so Walter Grasskamp über Koons, ,,ist in der Kunst kein Scharlatan mehr gesichtet worden, dessen Werk so vollständig frei gewesen wäre von jeglicher Kontamination durch ein handwerkliches Talent" 16; außerdem fehlt Koons, so sei hinzugefügt, worüber Yves Klein ausreichend verfügte: Humor. Der Künstler und der Pornostar führten vor, was beide bestens beherrschen und das Publikum eher amüsiert als aufgeregt zur Kenntnis nahm: Sie posierten für verkitschte Sex-Ikonen, mit denen Koons dann seine nächsten Ausstellungen bestückte. Von der dekadenten Dümmlichkeit der herrschenden Sexualmoral längst anstandslos akzeptierte Bildmuster aus der klebrigen Soft-Porno-Welt wurden jedoch auch durch die Star-Besetzung und die plakativen Vergrößerungen um kein Deut schärfer; geschweige denn enthielten sie auch nur ein Fünkchen von dem, was hier und da, in krasser Fehldeutung der affirmativen Haltung seiner Kunst, unterstellt wird: Ironie, Subversion oder gar Kritik. Koons' Karrierelämpchen leuchtet, wie gesagt, längst nicht mehr so hell wie am Anfang, und trotz des Versuchs, seinen Verlust an Prominenz mit einer internationalen Koons-Werbkampagne wettzumachen, hat sich sein Kunst-Griff erledigt wie ein Saisonartikel zur falschen Jahreszeit. Doch wird man wohl damit rechnen müssen, den von Koons verkörperten Künstlertypus in Zukunft vermehrt auf den Märkten und Szenen der Kunst anzutreffen: in aalglatter, kühl kalkulierender Unternehmermanier, ausgestattet mit dem Charme eines Krankenhausserienschauspielers und beherrscht von einem Selbstdarstellungsdrang, der alles übertönt und verdrängt, was ursprünglich Anlaß des ,,ganzen Theaters" (Timm Ulrichs) war - die Kunst. Noch einmal Walter Grasskamp: ,,Natürlich würde dieser Herold der tabuverletzenden Gesellschaft - die über ihre Medienobsessionen freilich nachzudenken beginnt wie ein angeschlagener Suchtkranker - keinen Moment zögern, beim Begräbnis der permissiven Kultur in Frack und Zylinder zu erscheinen und Läuterung zu signalisieren. Nur würde er dann niemanden mehr interessieren." 17
Anmerkungen
1 Timm Ulrichs in seinem Manifest ,Ich als Kunstfigur oder was das ganze Theater soll" (1966)
2 Marie Luise Syring: Kunst in Frankreich seit 1966. Köln 1987, 5. 13£
3 Ebd., 5.31
4 Vgl. Jürgen Schilling: Aktionskunst. Identität von Kunst und Leben? Frankfurt a.M. 1978
5 Benjamin H.D. Buchloh: „Joseph Beuys - Die Götzendämmerung". In: Brennpunkt Düsseldorf. Ausst.kat. Kunstmuseum Düsseldorf 1987, S.62
6 Dem jüngsten Gerücht zufolge sollen sich beim Öffnen der Konservenbüchsen Überreste von Pfirsichen darin befunden haben.
7 Schilling: Aktionskunst, 5.39
8 Wolf Jahn: Die Kunst von Gilbert & George. München 1989, ~.75
9 Ebd., 5.74
10 Nach: Schilling, S.151
11 Ebd., 5.155
12 Ebd., 5.161
13 Ebd., S.162; noch weiter gingen schließlich die Selbstverstümmelungsperformances des Kanadiers John Fare, der sich selbst vor geladenem Publikum nach und nach einzelne Gliedmaßen amputierte - bis zu Selbstent-hauptung (ebd., S.160)
14 so die Herausgeberin des Bandes, Dr. Fan-deh Akashe-Böhme, in einem Brief an Soltau
15 Vgl. hierzu u.a. Kunstforum Bd. 96, August-Oktober 1988 zum Thema ,,Performance und Performance Art'
16 Walter Grasskamp; Auf Kaffeefahrt mit Jeff Koons. In: Ders.: Der lange Marsch durch die Illusionen. München 1995, 5.63
17 Ebd., 5.172