Anselm Kiefer – Geschichte als Material.
Dissertation 1999


Vorwort
Vor etwa 30 Jahren begann Anselm Kiefer, als einer der ersten bildenden Künstler in Deutschland, sich mit Formen und Möglichkeiten von Trauer- und Erinnerungsarbeit auseinanderzusetzen. Im Zeitraum von 1969 bis 1983 schuf er ein umfangreiches, vielschichtiges und beunruhigendes Werk, welches die Problematik des Nationalsozialismus aus unterschiedlichen Perspektiven mit den Mitteln der bildenden Kunst beleuchtet und durcharbeitet. Als Vertreter der um 1945 geborenen Generation reagierte er damit auf ein Tabu, welches die deusche Nachkriegszeit bis in die sechziger Jahren wesentlich bestimmt und dafür gesorgt hatte, daß kritische Befragungen der Geschichte weitgehend ausgeblieben waren. Kiefers Arbeiten zur Geschichte und zur - damals noch - jüngsten Vergangenheit der Deutschen lösten Irritation und Empörung ebenso wie Zustimmung und Begeisterung aus. Sein Rückgriff auf bisweilen entlegene historische Zusammenhänge ebenso wie seine Verwendung ästhetischer Muster und Motive des Nationalsozialismus machten ihn in den achtziger Jahren international zu einem der umstrittensten Künstler.

Gegen Ende der neunziger Jahre erlebt Deutschland, inmitten einer von Jahrestagen und Gedenkveranstaltungen geprägten Atmosphäre, eine in der Nachkriegsgeschichte eher seltene Debatte um den Völkermord des Nationalsozialismus, in deren Mittelpunkt die Frage nach einem angemessenen öffentlichen Umgang mit der historischen Schuld der Deutschen steht. Daniel Jonah Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ (1996), die Wanderausstellung „Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht“ und vor allem der immer wieder aufflammende, mittlerweile kaum noch nachvollziehbare Streit um das für Berlin geplante Holocaust-Mahnmal sorgten wiederholt für Zündstoff. Die umstrittene Rede des Schriftstellers Martin Walser anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im November 1998 fachte die Diskussion erneut an und zog eine weit über den künstlerischen und intellektuellen Rahmen hinausgehende Kontroverse nach sich. Mehr als fünfzig Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs besteht immer noch keinerlei Einigkeit über die Formen, die das Erinnern an die deutschen Verbrechen und an das Leid der Opfer in unserem Lande annehmen kann und soll. Gegenwärtig werden Fragen erörtert wie die, ob Deutschland nun endlich wieder zur ‘Normalität’ zurückkehren könne - als wäre alles Bisherige ‘anormal’ gewesen; Wünsche werden laut nach dem ‘Erwachsenwerden’ des deutschen Volkes, so, als stecke dieses noch immer in den ‘Kinderschuhen’.

Im Bereich der bildenden Kunst hat sich kein anderer so ausgiebig diesem brisanten Stoff in all seiner Ambivalenz gewidmet wie Anselm Kiefer; eine Fülle von kunstkritischen Texten begleitete und kommentierte sein künstlerisches Geschichtsprojekt. Dennoch steht die eingehende kunst- und kulturgeschichtliche Untersuchung seines Ansatzes und seiner Ikonographie noch am Anfang. Die Aktualität seiner historisch-politischen Werke ist durch die gegenwärtige Diskussion erneut deutlich geworden. Das vorliegende Buch analysiert anhand von Kiefers Arbeiten und vor dem Hintergrund des zu Kiefer publizierten Textmaterialies einen der wichtigsten Beiträge der bildenden Kunst zur Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit.

Köln, Dezember 1998           Sabine Schütz

Zurück zur Übersicht / Zurück zum Lebenslauf