Tracey Emin


Für die einen ist sie das Enfant terrible der jungen britischen Kunstszene, für die anderen gewinnen in ihrem Werk Menschlichkeit, Authentizität und Mut zur Selbstkritik Gestalt. Konservative lassen sich von der kalkulierten Schockwirkung ihrer Arbeiten zu moralischer Entrüstung provozieren. Kritiker monieren, ihre Kunst sei lediglich ein mäßig origineller Aufguss der Frauenkunst im Stile der 70er-Jahre.

Tracey Emin gehört zu einer Gruppe jüngerer Künstlerinnen und Künstler, die der ehemalige Werbemagnat und Sammler Charles Saatchi in den 90er-Jahren unter dem Slogan »Young British Art« (YBA) um sich scharte: Von Saatchi lanciert, erwarb sich die stilistisch eigentlich eher unhomogene Clique schnell einen dissonanten Ruf als innovativ, radikal und kompromisslos - aber auch als banal, dreist und kommerziell. Geradezu wie nachzüglerische, dabei aber umso intensivere Reflexe auf die Forderung der späten 60er-Jahre nach Identität von Kunst und Leben, zeugen Tracey Emins Werke von dem Bestreben, die Grenzen zwischen persönlicher Erfahrung und künstlerischer Verarbeitung bis zur Unkenntlichkeit zu verwischen. Im Mittelpunkt ihrer Kunst stehen private Erlebnisse und Geschichten, angereichert durch Aspekte der Kommunikation mit Menschen ihres Freundes- und Familienkreises. »Tracey Emin hat eine Story zu erzählen und das Vorwort dazu ist, dass sie sie durch ihre Kunst erzählt«, brachte es Gemma de Cruz (Saatchi Gallery 2000) auf den Punkt. Emins Œuvre liest sich wie eine kontinuierlich vorüberziehende, seltsam gebrochene Bilderfolge ihres Lebens als Mädchen, Frau und Künstlerin.

Tracey Emin ist die Tochter einer britischen Mutter und eines türkischen Vaters, der ein Hotel in Margate betrieb, einem typisch britischen »sea-side resort«. Das Etablissement gehörte eher zu der Sorte, in die man sich auch stundenweise einmieten kann. Früh kam Tracey so mit den abgründigen Erfahrungen der Sexualität in Berührung. Anmache, Nötigung und Missbrauch erlebte sie am eigenen, kaum dem Kindesalter entwachsenen Leib. Bereits als Teenager frönte sie, neben ihrer Leidenschaft für den Tanz, ihren bevorzugten »Hobbys« Saufen und Sex, in denen sie Fluchtmöglichkeiten aus ihrem als langweilig und trist empfundenem Leben sah.

In den 80er-Jahren begann sie, ihre von solcherart Rauscherfahrungen geprägte Existenz künstlerisch zu reflektieren und zu gestalten. Mit unterschiedlichsten Materialien und Medien rückt Emin den persönlichen Erinnerungen zu Leibe, um sie in »Bilder« zu verwandeln, was in ihrer Kunst so ziemlich alles bedeuten kann. 1986 nahm sie ihr Malerei-Studium in London auf, doch hat sie seither mit den Gattungen Fotografie, Zeichnung, Video, Installation ebenso gearbeitet wie mit Elementen des Tanzes und der Sprache.

1995 entstand eine autobiografische Videoarbeit, die sich direkt auf ihre Jugenderlebnisse in Margate bezieht: »Why I never became a dancer.« Eine Atmosphäre aus Sentimentalität und Überdruss wird von den unscharfen Bildern transportiert. Emins Stimme erzählt dazu aus dem Off von ihren Pubertätserlebnissen, insbesondere von ihren frühreifen Sexualkontakten mit praktisch jedem Jungen im Ort – «doch es gab keine Moral oder Regeln oder Urteile. Ich tat einfach, was ich tun wollte. Als ich 15 war, hatte ich sie alle gehabt und Margate war zu klein für mich.« Emins Filmkommentar ist auch als späte Abrechnung mit den Männern von Margate zu verstehen, von denen sie nicht nur als Frau ausgenutzt, sondern zudem als Künstlerin verhöhnt worden war. »Shawn, Eddy, Tony, Doug, Richard – Dies ist für Euch«:

In der Ausstellung »Sensation«, die in den Jahren 1998/99 die neuesten Werke der YBA  auch in Deutschland bekannt machte, zeigte Emin ihre kontrovers diskutierte Installation »Everyone I have ever slept with« (1995). Ein Iglu-Zelt hatte sie von außen und innen über und über mit den Namen all derjenigen bestückt, mit denen sie jemals ein Bett geteilt hatte, also nicht nur – wie voreilige Kritiker argwöhnten – den Namen ihrer Sexpartner. Fein säuberlich in Patchworktechnik aufgebracht, enthielt die Liste auch die Namen ihrer Mutter, ihres Zwillingsbruders und ihres ungeborenen, abgetriebenen Kindes.

Wenn Emin sich bei der Herstellung ihrer Installationsarbeiten manchmal ausgesprochen weiblicher Techniken wie etwa des Patchworks oder des Stickens bedient, so kann man darin gewiss Anspielungen auf die feministische Kunst und Kunstkritik der 70er-Jahre erkennen, die sich ja seinerzeit ganz ernsthaft auf dergleichen verdrängte weibliche Beiträge zur Kulturgeschichte beriefen. Doch im Unterschied dazu durchwirkt Emins Handarbeit das scheinbar so harmlose textile Medium mit unmittelbar selbst durchlittenen psychischen Borderline-Erfahrungen. Die Heiterkeit der Farben und Stoffe und die bunte, fröhliche Campingplatzatmosphäre können über die tragischen Aspekte der verarbeiteten Inhalte nicht hinwegtäuschen. Emin kokettiert mit der Rolle der Selbstinszeniererin und erfindet immer neue Bilder und Ausdrucksmöglichkeiten für ihre ichbezogene Erinnerungsarbeit. Wie eine Spinne aus ihrem Faden webt sie aus ihrer eher unspektakulären jungen Biographie das Netz einer skandalträchtigen Legende. In London eröffnete sie 1995 – mit 32 – das »Tracey Emin Museum«, einen nur ihr selbst gewidmeten Hort für ihre tautologischen Ineinssetzungen von realen Erlebnissen und deren ästhetischer Formulierung.

Zu einer ihrer ausdrucksstärksten Selbstdarstellungs-Aktionen wurde ihre Einzelausstellung 1996 in der Stockholmer Galerie Andreas Brandström, wo sie ihren Lebens- und Arbeitsprozess selbst zum Sujet einer auf voyeuristische Publikumsteilnahme angelegten Performance machte. Emin hatte von 1986-1993 am Maidstone College und am Royal College of Art in London Malerei studiert, doch 1990 – bedingt durch private Krisen – radikal mit der Malerei gebrochen und sich anderen Medien zugewandt. Ihre alten Gemälde zerstörte sie. Die Stockholmer Performance war ihr öffentlich zur Schau gestellter Versuch, zurückzufinden zu einer künstlerischen Ausdrucksform, die sie eigentlich längst hinter sich glaubte. Tage vor der Eröffnung schloss sie sich alleine und nackt  im Ausstellungsraum ein. Durch fischäugige Peep-Löcher in den Wänden ließ sie sich von außen beobachten – kein Problem für Tracey, die ehemalige Gogotänzerin. Über Telefonate mit ihren Künstlerfreunden und angespornt durch die Auseinandersetzung mit kunsthistorischen Vorbildern wie Edvard Munch und Egon Schiele, gelang es ihr schließlich, ihre Malhemmungen zu überwinden. Die Ausstellung wurde zu einem Dokument dieses Prozesses.

Im Winter 1999 sorgte Tracey Emin für Protest und Aufruhr, als sie für den mit 20 000 Pfund dotierten Turner-Preis nominiert wurde, und zwar für die Zurschaustellung ihrer eigenen, recht schlampig hinterlassenen und mit gebrauchten Hygieneartikeln und leeren Schnapsflaschen garnierten Bettstatt. Der Streit um »Emins Bett« regte viele Feuilletonisten zu süffigen Kommentaren an, die das umstrittene Objekt als einigermaßen triviales Möbelstück ohne hinreichende Aussagekraft über die ungeheuerlichen darin verübten Lust- und Schandtaten ad acta legten. Lag es am lautstarken Protest empörter britischer Kulturbewahrer, dass der Preis schließlich doch nicht ihr, sondern dem Videokünstler Steve McQueen zugesprochen wurde? Vielleicht war es aber auch die Unsicherheit ob der Einschätzung von Emins künstlerischer Strategie, die die Kontroverse anheizte und Zweifeln an der Seriosität ihrer Kunst Platz machte.

Tatsächlich ist Emins Vorgehensweise so neu nicht; persönliche Gebrauchsgegenstände als Objekte der künstlerischen (Auto-)Biographie überschwemmen die Kunst spätestens seit dem Nouveau-Realisme: Spoerris Fallenbilder oder Armans ausgeleerte Prominenten-Mülleimer grüßen aus den 50er-Jahren. Und schließlich dürfte sich der Ekeleffekt eines mit Blut und Sperma befleckten Betttuchs in Grenzen halten angesichts von längst im Olymp der Kunst gelandeten Skandalen wie Piero Manzonis »Künstlerscheiße in Dosen« oder Otto Mühls Orgien-Mysterien-Schlachten der 60er-Jahre. Oder ist es der Umstand, dass hier eine junge Frau ungeniert und drastisch mit Sujets wie Sex und Exzess hantiert? Doch in Erinnerung an gewisse, künstlerisch inszenierte Gynäkologica aus der feministischen Künstlerinnenfraktion der 70er-Jahre oder verglichen mit Cindy Shermans Ekel-Fotos und Orlans Selbstverstümmelungsaktionen verliert auch dieses Argument an Schlagkraft. Was also, abgesehen von der im Empfinden vieler immer noch fest verankerten, puritanischen Abwehr alles Obszönen und Obsessiven, macht den Furor um Tracey Emin erklärbar? Denn die unerhörten Tabubrüche, für die sie beschimpft und beklatscht wurde, sind nicht ihr wahres Anliegen. Emin strebt danach, in ihrer Kunst radikal sie selbst zu sein. Und vielleicht tut sie dies radikaler als die feministischen Künstlerinnen vor über 30 Jahren, weil sie keinerlei ideologische Zielrichtung verfolgt. Ihr geht es einzig und allein um sich, um das Erkennen und Sichtbarmachen aller noch so banalen oder pikanten Details ihrer subjektiven Existenz. Ein allgemein gültiges, verbindliches Destillat aus diesem fortwährenden Selbstbespiegelungsprozess enthält sie uns freilich vor.

Dass solche egomanische Eins-zu-Eins-Setzung von Leben und Werk von der Kunstgemeinde keineswegs einhellig begrüßt, sondern von vielen als Verrat am Vorbildcharakter, zumindest aber an der Glaubwürdigkeit der Kunst abgelehnt wird, ist ihr egal, denn an einer verbindlichen Definition von Kunst ist sie eh nicht interessiert. Kunst ist das, was Tracey macht, meint Emin, das selbst ernannte Bad Girl der YBA. Und lässt nicht bereits der Umstand, dass sie als Star gehandelt wird, ihre Strategie – zumindest temporär – aufgehen? Wie ernst es ihr mit dieser Strategie ist, wird sich herausstellen, wenn ihr Stern zu verblassen beginnt. Wird sich ihre Kunst autistisch verspinnen oder ganz unspektakulär ins »wirkliche« Leben einkehren? Oder wird Emins Lebens-Kunst künftig womöglich gar wirklich radikale Utopien einer vollkommenen-künstlerischen, menschlichen und weiblichen – Identität hervorbringen? Spekulationen sind müßig, wünschen darf man es ihr und uns.


Literatur

Corris, Michael: Private View. In: Time out, 1.-7.12.1993.

Jopling, Jay (Hg.): Tracey Emin. I need Art like I need God. Ausstellungskatalog: South London Gallery London 1997.

Morgan, Stuart: The Story of I. In: Frieze, 34, May 1997, S. 56-61.

Sensation. Junge britische Künstler aus der Sammlung Saatchi. Ausstellungskatalog: Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof-Museum für Gegenwart, Berlin. Ostfildern 1998.

 

 

 

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