Boltanski Zeit
Zur Ausstellung im Institut Mathildenhöhe Darmstadt (bis 11.2.2007)
Christian Boltanski, geboren am 6.9.1944 in Paris, ist der wohl bekannteste französische Gegenwartskünstler weltweit. Berühmt wurde er in den achtziger Jahren mit seinen Erinnerungsräumen, in denen verschwommene schwarzweiße Porträtfotografien, wie im Verhör angestrahlt von nüchternen Schreibtischleuchten oder in dichter Folge „archiviert“ auf engen Stellagen, den massenhaften anonymen Tod in den Konzentrationslagern evozieren und zugleich als allgemeine Vergänglichkeitsmetaphern gelten können. Ähnliche Assoziationen lösten seine makabren Totentanzobjekte aus, kleine Plastikskelette wie von der Kirmes, die im Schein simpler Teelichter unheimliche Schattenbewegungen an den Wänden erzeugen; oder jene Installationen von gigantischen Kleiderbergen, die wie Mahnmale des Alltags für die Menschen stehen, die sie einst trugen. Am Anfang seiner künstlerischen Arbeit, zu Beginn der sechziger Jahre, standen expressive Gemälde, und bis heute versteht sich der Künstler, der allgemein eher als Kozeptkünstler gilt, selbst vor allem als Maler. Es folgten zahlreiche Werke, die sich mit der eigenen Biographie befassen; „La vie impossible de Christian Boltanski“ hieß seine erste Ausstellung 1968 in einer Pariser Galerie, und auch in der aktuellen Ausstellung in Darmstadt gibt es eine Arbeit dieses Titels. Der autobiographische Aspekt zieht sich wie ein Leitmotiv durch sein gesamtes Werk. Bemerkenswert ist dabei von Beginn an, dass sich in diesen Selbstreflexionen die reale Lebensgeschichte – nach dem Motto „Ich lüge gerne, wenn es er Wahrheit dient“ - mit fiktiven Momenten mischt und also der Künstler sein eigenes Alter Ego als Kunstfigur C.B. gewissermaßen neu erfindet. Die wesentlichen Merkmale seiner Kunst – die massenhafte Anhäufung von unspektakulären, mit authentischen Personen verbundenen Gebrauchsgegenständen, der Einsatz von medialen Bildern, das Spiel mit Licht, Dunkel und Schatten sowie eine beklemmende Todessymbolik – kennzeichnen auch seine aktuelle Ausstellung auf der Mathildenhöhe in Darmstadt. Insbesondere der autobiographische Ansatz tritt hier dezidiert in den Mittelpunkt, worauf auch der Titel „Boltanski Zeit“ anspielt. Seit 1994 hat sich Boltanksi wiederholt in Theaterprojekten engagiert, und auch die Darmstädter Schau kann man als eine Inszenierung wahrnehmen, die den Betrachter animiert, sie wie eine Folge szenischer Bildern abzuschreiten. Passend zum theatralischen Kontext betritt man die Ausstellung durch einen schwarzen Samtvorhang und steht unvermutet vor einem dunklen Gang, der von einer nackten Glühbirne nur spärlich beleuchtet wird, im Takt eines laut hörbaren Herzschlags rhythmisch aufflackernd und erlöschend. Es ist das Herz des Künstlers selbst, das hier mit seinem akustisch verstärkten Klopfen die Lichtbewegung steuert – der Auftakt zu einer sehr persönlichen Auseinandersetzung mit den Phänomenen Zeit und Endlichkeit.
Der zweite, ebenfalls nur spärlich beleuchtete Raum versammelt zwanzig große verglaste Schaukästen, die zahllose Dokumente – Briefe, Fotografien, Flugtickets, Notizzettel etc. – aus dem Leben Boltanskis wie eine Riesencollage ausbreiten. Die Details sind aber aufgrund der Verspannung mit Fliegengittern und der partiellen Ausleuchtung nur schemenhaft zu erkennen und lassen selbst den aufmerksamsten Betrachter letztlich im Dunkeln. Vom Nebenraum her macht eine frühe Videoarbeit aus dem Jahr 1969 akustisch aufs Unangenehmste auf sich aufmerksam - „Der Mann, der hustet“ – er kauert wie ein Folteropfer vor einer beschmierten Wand und hustet wie ein sterbendes Tier, das röchelt und keucht, bis es Blut spuckt.
Im anschließenden „Scratch Room“ wurde eine silbrige Oberfläche mit unscharfen Porträts von Toten und Verletzten, allesamt Opfern krimineller Gewalt, so unterlegt, dass der Besucher diese nach dem Prinzip der Rubbellose durch eigenhändiges Abkratzen der Silberschicht freilegen kann wie ein Palimpsest. Der kleine Raum wirkt wegen der sich im Ausstellungsverlauf kontinuierlich vermehrenden Kratzspuren wie eine Gefängniszelle mit den verzweifelten Notizen der Häftlinge. - Zwei grobgerasterte Fotovergrößerungen von Neugeborenen, die auf makabere Art an Totenmasken erinnern, flankieren den Weg in den nächsten Raum, eine große Halle, aus der schon von Ferne banale Statements wie „Ich bin schön, ich bin dumm, ich bin traurig“ etc. tönen – eine Toninstallation, die speziell für diese Ausstellung erstellt wurde. Die abgehackten Worte schweben zwischen riesigen Plastikcontainern, die den Raum fast völlig besetzen, so dass dieses schwarze Labyrinth den Besucher nur widerstrebend durchlässt. „T O T“ blinkt es unheilvoll von der Wand. Am Ende erwarten einen Tafeln mit den Geburts- und Sterbedaten vieler Angehöriger und Freunde von Boltanski – erstaunlicherweise zahlreiche sehr jung verstorbene Menschen, von denen wir nichts als ihre Eckdaten erfahren. Gleich darauf hat Boltanski sechzehn schwarzweiße Doppelporträts als Großbilddias auf Augenhöhe installiert, deren Vorder- bzw. Rückfront jeweils Jugend- und Alterbildnisse ein und derselben Person abbilden, so dass bei entsprechender Beleuchtung beide Phasen ineinander übergehen – „Zeyt“ (2001). Der zweite Hallenraum wird wie die düstere Horrorvision eines Krankensaales inszeniert – mit bleiernern Betten und Bahren, teilweise mit Plastikplanen verhangen. Überwindet man sich, hineinzuschauen, blickt man auf akkurat arrangierte, leere Kissen und Decken („Les lits“, 1997/98). Abseits davon, in einem Seitenraum, läuft eine höchst bemerkenswerte Ton-Bild-Collage, die der Künstler mit Hilfe des nationalen französischen Bildarchivs INA realisierte, „6 septembres“: Drei an den Wänden des Raumes ablaufende Videocollagen fassen alle an den bisherigen Geburtstagen Boltanskis ausgestrahlte Nachrichtensendungen in 2000-facher Beschleunigung zusammen wie eine schwindelerregende aber nichtssagende Filmcollage. Der entsprechende Ton wurde in 500-facher Beschleunigung hinzugemixt als quäkend-piepsende Quintessenz aller Fernsehtöne dieser Welt. Der interaktive Clou: Jeder Betrachter kann per Knopfdruck die laufenden Bilder für einen oder mehrere Momente fixieren – bis zum unvermeidlichen Verlöschen im endlosen Rauschen des medialen Orkus.
Nach diesem Highlight der Ausstellung gibt es nurmehr einen weiteren Tiefpunkt: das Video von 1971 „Essai de reconstruction des 46 jours qui précedèrent la mort de Françoise Guiniou“. Dieser Film hält fiktiv (siehe auch: Lügen zugunsten der Wahrheit) und nüchtern das Schicksal besagter Frau fest, die sich aufgrund materieller Notgedrungenheit mit ihren zwei Kindern bewusst zu Tode hungerte.
Den Abschluß bildet eine überlebensgroße Videoinstallation mit diversen zwischen den Altersstufen changierenden Porträts des Künstlers selbst („Entre temps“, 2003). Akustisch wird sie flankiert von der allseits bekannten Zeitansage: Beim nächsten Ton ist es... Daß dieser Ton nicht mit der aktuellen Zeit übereinstimmt, hebt die Installation auch am Ende noch einmal heraus aus der realen Zeit; und doch hat kaum ein Künstler genau jenes Phänomen „Zeit“ so eindringlich und unausweichlich geschildert wie Christian Boltanski, der am 18. Oktober 2006 für sein Werk mit dem „Praemium Imperiale“, dem Nobelpreis der Künste, ausgezeichnet wurde. Zurecht, denn Bolanski hat mit seinen Bildern und Rauminszenierungen auf einzigartige Weise das Dilemma des – wie er es nennt - „posthumanistischen“ Zeitalters formuliert.