Trauma Natalis

Eine syntopische Raumcollage von Igor Sacharow-Ross
 
„Spiegel: noch nie hat man wissend beschrieben,
was ihr in eurem Wesen seid.
Ihr, wie mit lauter Löchern von Sieben
erfüllten Zwischenräume der Zeit.“
(R. M. Rilke) 

Der Versuch, die künstlerische Welt von Igor Sacharow-Ross zu beschreiben, läuft auf den Versuch hinaus, die Welt selbst zu beschreiben. So umfassend und vielseitig ist die Arbeitsweise des Künstlers, daß sich von jedem Aspekt seines Denkens aus eine unaufhaltsame Assoziationskette zu anderen, auf den ersten Blick scheinbar entlegenen Bereichen und Motiven ergibt. Wie der Kosmos sich aus einer unauflösbaren Vernetzung aller darin existierenden Wesenheiten zusammensetzt, so entwickelt Sacharow-Ross in seiner Kunst aus Elementen der Natur und Wissenschaft, Kultur, Geschichte und Erinnerung eine facettenreiche Gesamtstruktur voller spannender Details und Bewegungen. Der Künstler nennt seine ganzheitliche Arbeits- und Denkweise syntopisch.

Im Jahre 2005 realisierte Igor Sacharow-Ross für das Staatliche Zentrum für zeitgenössische Kunst in Moskau die multimediale Raumarbeit „Trauma Natalis“. Als Ort diente die aufgelassene Produktionshalle einer ehemaligen Fabrik, der Anlaß waren die Feiern zum 60. Jahrestags des Kriegsendes 1945.

Mit dem Titel „Trauma Natalis“ – Trauma der Geburt - schlägt der Künstler ein psychoanalytisches Thema an, das sich in Gestalt zahlreicher autobiographischer Verweise und Anspielungen durch die gesamte Installation zieht. Der Freud-Schüler Otto Rank hatte 1924 in seinem Buch „Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse“ die These vertreten, dass jeder Mensch bei seiner Geburt das größte Trauma seines Lebens erleide und fortan immer versuche, dieses zu überwinden, getrieben von der unbewussten Sehnsucht, in den Mutterleib zurückzukehren. Heilungsmöglichkeit sah Rank u.a. in der Analyse der Geburtssymbole in Traum und Phantasie. Eine unschätzbare Rolle spielte für ihn dabei die bildende Kunst.

In Sacharow-Ross’ Kunst, die sich auf der Grundlage des Syntopie-Gedankens der visualisierten Vernetzung aller Ebenen des Lebens in komplexen Bildern widmet, spielt naturgemäß die persönliche Lebensperspektive, als subjektives Zentrum der Welterfahrung, eine zentrale Rolle. Nie jedoch wird bei Sacharow-Ross das Autobiographische zum alleinigen Thema; immer verbindet es sich, ganz im Sinne des Syntopiegedankens, mit anderen, außerhalb des Selbst angesiedelten Aspekten. „Trauma Natalis“ bringt diese zwischen dem Politischen und dem Privaten vermittelnde Strategie exemplarisch zum Vorschein in einer spannungsreichen Bild-Klang-Video-Collage, an deren historischer Bezugspunkt – das Ende des Zweiten Weltkriegs - sich wie von selbst die Biographie des 1947 in einem Verbannungsort nahe Chabarowsk, am östlichsten Rande Sibiriens, geborenen Sacharow-Ross knüpft. „Trauma Natalis“ führt auch vor Augen, wie leicht und virtuos sich der Künstler zwischen den Medien und Materialien hin- und herbewegt, womit auch auf technischer Ebene die Vernetzung des Verschiedenartigen zur Komplexität des Werks entscheidend beiträgt.

Dabei handelt sich nicht um eigens für die Installation hergestellte Arbeiten, sondern der Künstler versammelt vorwiegend ausgewählte Stücke aus älteren Jahrgängen, wodurch sich hier ganz nebenbei auch eine Art selektiver künstlerischer Biographie ergibt. Sein Vater, ein russischen Offizier, war nach Fernost verbannt worden, nachdem er es gewagt hatte, in Sofia die Tochter eines nach Bulgarien emigrierten „Klassenfeindes“ – eines bourgeoisen Großoffiziers - zu heiraten, zumal kirchlich. Igor befand sich im Mutterleib, als die Eltern deportiert wurden - vielleicht sein persönliches Geburtstrauma. Im Laufe seiner Kindheit, die der Junge in einfachsten bäuerlichen Verhältnissen zubrachte, gesellte sich zum eigenen Los der Verbannung die nicht weniger traumatisierende Geschichte der Familie mütterlicherseits, deren größter Teil entweder von Stalin liquidiert worden oder an der Front gefallen/verschollen war. Eine stets als unheilvoll, aber auch bereichernd erlebte Verzahnung von individueller und politischer Geschichte durchzieht wie ein roter Faden das gesamte Werk von Igor Sacharow-Ross. In „Trauma Natalis“ wird sie explizit thematisiert.

Der Weg durch das Dickicht der Erinnerungen ist ein im Wortsinne gegenläufiger, d.h. gegen den Uhrzeigersinn und also gegen unsere konventionelle Vorstellung vom zeitlichen Ablauf gerichteter. Dies äußert sich nicht nur konkret in der Linksläufigkeit des Rundgangs, der die einzelnen Stationen locker miteinander verbindet. Das antizyklische Moment ist auch akustisch präsent – zunächst in dem Kurzfilm „Luisa“, der die Rolle des Prologs übernimmt. Bedächtig, unterbrochen von langen Pausen, hören wir Luisas Kinderstimme die Zahlen von Zehn bis Null „herunter“sagen, während das Mädchen sich gedankenverloren dem leinwandfüllenden Spiel seiner Hände hingibt: Wasser, Erde, Sand und abgebrochene Blätter lässt Luisa durch ihre Finger gleiten, knetet, rührt und verschmiert die Masse mit informellen Gesten auf einer Scheibe. Ein so elementares Bild des kreativen Prozesses ist überhaupt nur als Prozess, nicht in Gestalt fertiger Objekte, darstellbar. Es ist ein notwendig dialektischer Prozess, der immer auch das destruktive Element enthält, etwa, wenn die zarten Mädchenhände das Blatt in kleine Schnipsel zerreißen - und reuevoll wiederzusammenzusetzen versuchen. Doch Blätter wachsen nach, und ein neues, aus dem Wasser gefischtes, bindet das Ende unbeschwert zurück an den Anfang der Sequenz.

Zwei Projektionen von weißen, leicht im Wind wehenden Tüchern setzen daneben ein fast abstraktes monochromes Bild, das sich im hiesigen Kontext ebenfalls als Hinweis auf den Lebenskreislauf lesen läßt: In der sanften Luftbewegung scheinen die Laken zu atmen wie lebende Wesen, während sie zugleich an Leichentücher, etwa in der christlichen Malerei, erinnern. Für den Besucher markiert ihr weißes Wogen eine geistige Pause vor dem Eintritt in die eigentliche „Geschichte“, vorbei an einer visuellen Schranke: Überraschend kehrt sich nun die Leichtigkeit des kindlichen Spiels in historischen Ernst. Durch eine perforierte Projektionswand wird wie durch einen halboffenen Vorhang die Fabrikhalle erahnbar als geheimnisvolle, von Klängen und Bildern erfüllte Dunkelkammer – vielleicht die Mutterhöhle. Auf der Leinwand selbst malt sich schemenhaft die Gestalt Adolf Hitlers ab, in wohlbekannter Demagogenpose vor gebannt lauschender Menschenmasse. Das Foto wurde durch eine Lupe hindurch aufgenommen und auf monumentales Maß vergrößert, verzerrt und nach hinten gekippt, so dass man sich an die Bilder der gestürzten Denkmäler gestürzter Diktatoren erinnert, die der jüngere Zeitgenosse vor allem aus Moskau oder Bagdad kennt. Aber dieser einzigartige Hitler bleibt auch noch in seinem löchrigen, gebrochenen Abbild eine ominöse Metapher des Unheils schlechthin, die ihre – wenngleich schwindenden - Schatten bis heute auf die europäische Geschichte wirft.

 Dem Bild des bösen kollektiven Übervaters folgt die Projektion der guten individuellen Mutter, nicht der leibhaftigen des Künstlers, sondern eher einer Art russischen Mutterklischees: vor vielen Jahren fotografierte der Künstler dieses charakteristische Porträt einer nordrussischen Bäuerin, mit Kopftuch und skeptischem Blick im zerfurchten Gesicht, die mit den Händen ihren Leib hält als wäre sie schwanger. Für die Moskauer Ausstellung unterzog Sacharow-Ross diese Fotografie diversen Verfremdungstechniken und filmte die Spiegelung der Aufnahme in einer leicht bewegten Oberfläche ab, wodurch das leidgeprüfte Mutter-Antlitz  zum Leben zu erwachen scheint. Eine optische Brechung erfährt dieses Bild zudem durch seine partielle Reflektion in der spiegelglatt polierten Oberfläche einer tiefschwarzen Graphitplatte, die sich zwischen Projektion und Leinwand schiebt. Im Urstoff Graphit, der eine tragende Rolle spielt in Sacharow-Ross’ Materialkanon, tritt ein gleichsam überzeitliches Moment zutage: Die metallisch glänzende Tafel aus verdichtetem Kohlenstoff ist Zeugnis einer Epoche jenseits aller Zeitrechnung – entstanden vor ca. 350 – 290 Millionen Jahren - und stummes Zeugnis fast der gesamten Entwicklung unserer Erde. Wenn Igor Sacharow-Ross sein nostalgisches Mutterbild in der fragilen Oberfläche dieses Graphitblocks spiegelt, dann vereinigen sich hier  „Gewesenes und Gegenwärtiges zu einer mit Jetztzeit geladenen Vergangenheit“ (Walter Benjamin). Die Motive des Spiegels und der Spiegelung, ebenso wie die Technik der Überblendung verschiedener Bildebenen oder die Arbeit mit halbtransparenten Stoffen, bietet dem Künstler Gelegenheit, seine - gedanklichen und realen - Filme, Bilder, Stimmen und Klänge simultan zu komponieren, dass sie einander durchdringen und zu einem vielschichtigen Ensemble zusammenwachsen. So wird die Vernetzung der Themen und Motive zwischen privatem und öffentlichem Bewusstsein ästhetisch erfahrbar in dem Zusammenspiel und Widerstreit der unterschiedlichen Medien, ergänzt durch die diversen Klangelemente, die sich für den Betrachter an einem zentralen Punkt im Raum zu einem gleichsam plastischen Hörbild verdichten.

Von der Symbolfigur der Mutter führt das nächste Bild mitten hinein ins werdende Menschenleben. Wie achtlos abgestellt, hat der Künstler auf dem Fußboden mehrere Monitore mit Ultraschallaufnahmen platziert, auf denen wir Föten bei ihrem schwerelosen Umherschlingern im Uterus beobachten können. Noch liegt das Trauma der Geburt vor ihnen. Autistisch um sich selbst kreisend, ahnen sie noch nichts von dem sie erwartenden Leben, und vielleicht verweist die aleatorische Ansammlung der Bildschirme auf dessen unvorhersehbaren Verlauf. Ganz sicher aber wird es einst mit dem Tod enden.  Die auf Silberkarton gedruckte Aufnahme von der Schädelstätte in einem österreichischen Kloster macht das unmissverständlich klar. Sie zeigt  Berge von Totenköpfen, jeder einzelne säuberlich mit dem Namen seines ehemaligen Trägers beschriftet. Über diesem wahrlich makabren Stilleben hat Igor Sacharow-Ross das Gedicht „Im Spiegelland“ der russischen Lyrikerin Anna Achmatova abgedruckt, dessen Zeilen dort, wo sie sich mit dem Schwarz der Schädel decken, ausgelöscht sind. In der zweiten Strophe heißt es:

    „Und ich trete – o Gott, hilf Du mir! –
    Auf die hellen, zerbrechlichen Schichten.
    Doch du wahr’ meine Briefe bei Dir,
    Daß die Nachfahren über uns richten.“

Wenn sich in den silbrig schimmernden Schädeln der unheimliche Lichtschein der Ultraschallfilme fängt, dann ist dies ein weiteres Beispiel für die Sensibilität und Phantasie des Künstlers in der Erfindung von inhaltsstarken Bildern zwischen Leben und Tod, ja, wie hier, zwischen den Sphären vor dem Leben und nach dem Tod.

Im nächsten Bild klingt nochmals das Thema der russischen Familie an, wieder als ein per Videokamera zum Leben erwecktes, fotografisches Gruppenporträt aus alter Zet. Wir erkennen die dargestellten Personen – einen Vater mit Kindern, diesmal bewusst ohne die Mutter - nur diffus, denn die Filmaufnahme einer modernen Webmaschine legt sich darüber, die unermüdlich ihr Tuch produziert. Monoton trägt sie mit ihren mechanischen Hin- und Her-, Auf und Ab-Geräuschen zum Klangteppich der Raumcollage bei. Das rhythmische Klappern vertont den pausenlosen Arbeitsprozeß und versinnbildlicht zugleich auch akustisch den Ariadne-Mythos vom Leben als einem ewig im Entstehen begriffenen Gewebe. – Igor Sacharow-Ross hat ein authentisches Stück seiner russischen in seine neue Heimat Köln transferiert: ein echtes udmurtisches Blockhaus, das für ihn zum idealen Kumulationspunkt des syntopischen Denkens geworden ist. Als Haus, Heimstatt und Hort des menschlichen Daseins untermauert es symbolisch sein künstlerisches Konzept. Mehrere Monitore geben in „Trauma Natalis“ Einblicke in diesen ganz speziellen Ort seiner ganzheitlichen Utopie. Aus der Perspektive eines anonymen Mannes fährt die Kamera durch den Raum und tastet sich beinahe liebevoll entlang der rustikalen Balken und Streben der Hütte, hinauf in ihren Dachstuhl und wieder zurück zur Tür. Und während draußen der Regen plätschert, verwandelt sich die simple Holzhütte in einen imaginären Ort für den Austausch von Ideen und Wissen verschiedenster Herkunft.

 Als letztes Raumbild folgt die überdimensionale, auf die Dachkonstruktion des Fabrikgebäudes gerichtete Videoprojektion einer Treppe, die den Raum nach oben illusionär öffnet; ein kleines Mädchen steigt hinauf und scheint im Dachstuhl wie im Nichts zu verschwinden. Was bleibt, ist ihre Stimme, die auf Russisch die Zahlen von 34 bis Null herunterzählt. Im Hintergrund hören wir auf Amerikanisch verschiedene mathematische Formeln und schließlich den Countdown einer Rakete. Doch nicht im unendlichen Raum landet die von dieser Installation angeregte Er-Zählung, sondern sie verweist gerade durch den wiederholten Aspekt der Gegenläufigkeit immer wieder vom Allgemeinen auf das Individuelle, Subjektive.

Als Epilog hat der Künstler ein weiteres Tuch projiziert, wandfüllend auf die Rückseite der weiß wehenden Leintücher vom Beginn der Arbeit; doch dieses Laken ist rot, vielleicht vom Blut der zahllosen Opfer, von denen diese Geschichte nur einen Bruchteil erwähnte. Das abschließende Bild rückt ein letztes Mal das autobiographische Moment der Raumcollage ins Blickfeld: Die Fotografie eines Onkels  mit seiner Frau, die wie schwebend über dem Mittelschiff einer gewaltigen Kathedrale steht. Das Foto entstand Mitte der dreißiger Jahre, 1937 wurde der Onkel deportiert und ermordet. Wie in einem Traum erscheinen die beiden Verlorenen über dem Kirchenschiff, mit dessen sakraler Ruhe und Ordnung sie sich zu einem  Epitaph vereinigen.

So bindet Igor Sacharow-Ross mit diesem Schlußbild noch einmal den Anfang ans Ende, und der Kreis schließt sich – „Trauma Natalis“ erweist sich als ein hochdifferenzierter und bilderreicher Kommentar zu 60 Jahren individueller und kollektiver Geschichte, die vorerst noch nicht zur Ruhe gekommen ist – mithin ein im besten Sinne syntopisches Werk, das „mit Anfang .. schließt und mit Ende beginnt.“ (R. M. Rilke)
 

Sabine Schütz, August 2006

 

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