Christian Boltanski: Les Lycées Chases
Der Raum ist groß, düster und fast leer. Nur an den Wänden entlang sind Ensembles aus Bildern und Kästen ordentlich aufgereiht. Die Lichtquellen, nüchterne schwarze Schreibtischlampen älteren Datums, wie man sie noch heute vornehmlich in Behörden vorfindet, strahlen die Bilder direkt und aus geringster Entfernung an, so dass Details zugleich schlaglichtartig aus der schummrigen Umgebung herausgeschält und von den Lampenschirmen teilweise verdeckt werden. Soviel ist erkennbar: Die Bilder, die in das gelbliche Lampenlicht getaucht sind - 12 groß- und wenig mehr postkartenformatige - zeigen jugendliche Gesichter, deren Physiognomien allesamt ein unbestimmtes Lächeln aufweisen. Unbestimmt vor allem deshalb, weil es sich allem Anschein nach um so stark vergrößerte Fotografien handelt, dass jeder Kontur, jegliches individuelle Merkmal in weichen, grauschwarzen Flächen untergehen. Die Fotografien, sauber in schwarze Rahmen eingefasst, hängen nicht, sondern lehnen an der Wand. Sie stehen auf eckigen Blechbüchsen, die übereinandergestapelt sind wie die Karteikästen in einem penibel geführten Büro. Es drängt sich der Gedanke auf, dass in diesen ausgedienten Keksdosen die persönlichen Daten und Details aufbewahrt werden, die wir in den Gesichtern vergeblich suchen.
Wir befinden uns im „Lycée de Chases“, einer zweiteiligen Installation, die der Franzose Christian Boltanski in der Halle des Düsseldorfer Kunstvereins eingerichtet hat.
Das „Lycée de Chases“, so entnehmen wir dem Katalog, hat tatsächlich einmal existiert, und zwar in Wien. Es war ein jüdisches Gymnasium, und das Foto, von dem der Künstler die einzelnen Porträts hochvergrößert hat, stammt aus dem Jahr 1931. Es zeigt die Abschlussklasse der Schule. Dies zu wissen, ist hilfreich aber nicht unbedingt erforderlich, um das Anliegen der ungemein eindrucksvollen Installation zu entschlüsseln. Denn viel schwerer als das ohnehin spärliche faktische Wissen um die zu hohläugigen Schattenwesen aufgeblasenen ehemaligen Wiener Abiturienten wiegt die Ahnung, die den Betrachter unweigerlich beschleicht und sich im zweiten Teil der lnstallation zu unheimlicher Gewißheit verdichtet. Wieder sind es die vergrößerten Köpfe des Klassenfotos, die, diesmal en bloc gehängt, die Stirnwand des zweiten Raumes füllen. Gegenüber baumeln zwölf kleine blecherne Totengerippe und Schädel, die im Schein von Teelichtern ihre Schatten an die Wand
werfen. Wenn der Luftzug des vorbei gehenden Betrachters die Kerzen zum Flackern bringt, dann beginnen die Schatten mit ihrem makabren Totentanz.
Die gedämpfte Beleuchtung, die ruhige, symmetrische lnszenierung der Räume und der altarhafte Aufbau des „monument“ tauchen das Environment in eine meditative, ja sakrale Atmosphäre, der man sich nicht zu entziehen vermag. Selbst die schaurige Anwesenheit des Todes wäre man noch bereit hinzunehmen, wären hier nicht überall auch die Spuren der Mörder, die ihre Opfer mit Brutalität und Bürokratie zugrunde richten.
Seit etwa 1970 setzt sich Christian Boltanski mit der Aufarbeitung privater und kollektiver Mythen auseinander. Nachdem er zunächst die Geschichte der eigenen Person immer wieder neu erzählt (und neu erfunden) hatte, interessierten ihn ab 1974 mehr und mehr die Geschichten anderer Menschen. Vor zwei Jahren begann der Künstler mit der Arbeit an »Leçons de Tenebres« (Vesperandacht), de] auch das »Lycée de Chases« zuzuordnen ist. Auch seine Arbeit „Archive“ entstammte diesem Werkkomplex - einer der wenigen wirklich überzeugenden Beiträge auf der documenta 8. Während dabei die documenta-Arbeit vom Thema des zu Tode verwalteten Menscher bestimmt war, paart sich dieses Motiv in der Düsseldorfer Inszenierung mit einer merkwürdig andächtigen Religiosität. Aus Grabkammer, Kirche und Kanzlei hat der Künstler einen ungewöhnlichen, bei aller Gegensätzlichkeit höchst stimmigen Raum entstehen lassen, in dem Leben und Tod einander die Hand reichen: Gesichter von lebenden Menschen verwandeln sich durch überdimensionale fotografische Vergrößerung in Totenköpfe, während Skelette von der Hand des Künstlers zum Leben erweckt werden.
Man hat Christian Boltanski einen „Spurensicherer“ genannt, dessen Spuren jedoch niemals wie Indizien sind, sondern immer offen und ambivalent. Gerade aus diesem Grunde bieten seine „Leçons de Tenebres“ einen spannungsvollen neuen Ansatz zum künstlerischen Umgang mit der jüngsten Vergangenheit.
(Rezension der Ausstellung Im Kunstverein Düsseldorf 1987. Veröffentlicht in: Kunstforum Bd. 91/1987)