Georg Baselitz. Zeichnungen seit 1958


Georg Baselitz, geboren 1938 als Georg Kern im sächsischen Deutschbaselitz, gilt vielen als der Maler, dessen Motive auf dem Kopf stehen. 285 seiner Zeichnungen aus den Jahren 1958 bis 1983 befinden sich zur Zeit für die Dauer fast eines Jahres auf Wanderschaft durch deutsche Museen. 1958, während seines Studiums bei Hann Trier in Berlin, stand Baselitz vor der Wahl, der tachistischen Ma­lerei zu folgen oder die Malerei ganz neu zu formulieren. Seine frü­hen Zeichnungen weisen ihn noch als unentschlossen aus; zwar domi­nieren gegenständliche Formen, doch die gestische Beeinflussung besonders durch Jackson Pollock ist unverkennbar. Auch Anklänge an Edvard Munch sind in dieser „anamorphotischen“ Bildern und „Kopflandschaften“  evident. Mit flüchtigem, unruhigem Pinselstrich hingeworfene Figuren und Land­schaften verwandeln sich in Köpfe und Schädel – ein „Pandämonium“, wie Baselitz es 1961 in einem Mani­fest formulierte. Metamorphosen - die Landschaft im Kopf und der Kopf im Gegenstand - bestimmen seine Arbeiten in den frühen sech­ziger Jahren.

1964 gewinnen seine Bilderfindun­gen, vielleicht in Anlehnung an der Stil der Zeit, Kontur; seine Ge­spinste werden zur Figur. Es ent­steht der „neue Typ“: eine oder mehrere menschliche Figuren mit riesenhaften, kastenförmigen Leibern. Der Kopf - zentrales Motiv in Baselitz’ Gesamtwerk - verkleinert sich zu einem eher unbedeutender Teil des Menschen; die Figuren erscheinen beherrscht von niede­ren Bedürfnissen. Doch sie strahlen Zuversicht und Gelassenheit aus und wecken Vertrauen. Es sind die „großen Freunde“ - so der Titel eines Manifestes von 1966.

Bald nach der Erfindung des „neu­en Typ“ beginnt Baselitz, das Bild als Abbild radikal in Frage zu stel­len. Zunächst läßt er die Bilder in Teile zerfallen. Seine Tuschzeich­nung „Kopflandschaft“ von 1966 wird durch eine horizontale Linie in zwei Hälften unterteilt. Häufig auch setzen sich seine Zeichnungen jetzt aus mehreren Papierstücken zu­sammen. Manche Arbeiten, ganz besonders das unbetitelte Blatt von 1967/68, wirken so gestückelt wie der berühmte „cadavre exquis“ der Surrealisten.

Offenbar nicht vollauf zufrieden mit dieser gewaltsamen Sektion von Bild und Bildgegenstand, geht Baselitz 1967 noch einen Schrift weiter, indem er den Gegenstand im Bild zu drehen beginnt - zunächst um eine Vierteldrehung, wie den „Hund aufwärts“ oder den „Waldar­beiter“. Schließlich kehrt Baselitz 1969 den Bildgegenstand gänzlich auf den Kopf. Unerbittlich reduziert der Maler hier das Bild auf die reine Malerei, erhebt sie zum einzig be­stimmenden Faktor des Bildes. Für Baselitz bedeutete diese Umkeh­rung des Sujets den entscheiden­den Wendepunkt in seiner Kunst, denn sie erlaubte es ihm, seine Malerei von der Bedeutung des Bildgegenstands loszulösen. Dies heißt jedoch nicht, daß der Gegen­stand seinen Sinn ganz verloren hat; nach wie vor sind es der Mensch und sein Kopf, welche Ba­selitz  vorrangig beschäftigen. Durch ihren Kopfstand aber entzie­hen sie sich - in den siebziger Jahren unterstützt durch hohe Ab­straktion und hektischen Duktus - der   endgültigen Identifikation durch den Betrachter. Texte, die dem Maler jetzt häufig als Grund seiner verkehrten Motive dienen, verleihen den Bildern eine dritte, konzeptuelle Dimension.

In seinem jüngsten Werk stellt sich erneut eine Beziehung zu Edvard Munch ein. Stilistisch als auch inhaltlich greift Baselitz die ausgehöhlten, schreienden Köpfe des Norwegers auf. Doch Munch sei nichts als ein Vorwand, Eigenes zu erfinden, meint Baselitz; heute stärker noch als damals, als immerhin inhaltliche Fragen seine Malerei dominierten. Und wenn heute immer wieder religiös befrachtete Motive – Abendmahl, Kreuz oder Christuskopf - bei ihm auftauchen, so eher als unbewußte Produkte einer Suche nach immer neuen Bilderfindungen.

In Baselitz’ Zeichnungen sind häufig die Schöpfungen der Ölgemälde vorweggenommen. Nicht weniger deutlich als diese, manchmal einfühlsamer, zeichnen sie die Entwicklung eines der interessantesten und einflußreichsten Künstler unserer Zeit nach.