Bernard Schultze. Die Papier-Arbeiten
Filigrane, zarte Linienverzweigungen verbinden sich zu Formen, die anwachsen, um sich sogleich wieder aufzulösen; Farben verschmelzen zu vielschichtigen Strukturen und überziehen die gesamte Bildfläche mit phantastischen Figurationen. Bernard Schultzes Bilder bieten fürwahr reiche Beute für die Phantasie, doch schnell wird die Phantasie auch umgekehrt zum Spielball der Bilder: Was da gerade noch wie ein gewaltiges, zerklüftetes Felsmassiv sich aufzutürmen schien, hat sich schon im nächsten Moment in eine fremdartige, wuchernde Vegetation verwandelt, aus der heraus hier und da Hände zu greifen oder Gesichter zu starren scheinen. Im Blick des Betrachters füllen sich die Bilder mit Leben, als seien sie in ständiger Verwandlung begriffen. Wer diesem Spiel der Metamorphosen zu folgen vermag, dem enthüllen sie, wenigstens teilweise, ihr wahres Wesen. Ihre Titel klingen abenteuerlich: „Wald-Trümmer-Sturz“, „Sommerlich im Labyrinth“, „Verwandlung Merlins, die Blätter im Wind“ oder „In der Erde die Wurzelschrift“ - die bizarre Geheimnisfülle der Bilder deuten die Titel zwar nur an, doch ihre häufigen Verweise auf Naturhaftes, Organisches bieten der Phantasie eine wertvolle Stütze.
Das Bonner Landesmuseum hat jetzt mit den Papier-Arbeiten einen wichtigen Werkkomplex des Künstlers zu einer Wanderausstellung zusammengestellt, die, nach ihrem Debut in der Wiener Albertina, in vier Museen der Bundesrepublik zu sehen sein wird. Rund 100 Arbeiten, entstanden zwischen 1946 und 1983, ergeben hier ein durchaus abgerundetes Bild von der künstlerischen Entwicklung des heute 69jährigen Schultze, denn keineswegs kommt den Papier-Arbeiten bloß provisorische, begleitende Bedeutung zu. Gleichrangig mit den Gemälden und Skulpturen müssen sie in wechselseitiger Ergänzung zu diesen betrachtet werden. Dabei sind sie lyrischer und sensibler als die z. T. recht drastischen Migof- und Puppengebilde der sechziger und siebziger Jahre; behutsamer als diese geleiten sie den Betrachter durch das wundersame Zwischenreich des Künstlers.
Schultzes künstlerischer Werdegang ist schillernd, aber konsequent. Seine frühesten bekannten Arbeiten stammen aus den Jahren nach dem Krieg, denn sein gesamtes Frühwerk wurde beim Angriff auf Berlin 1945 zerstört. Sie zeugen von Schultzes damaliger Affinität zur surrealistischen BiIderwelt. „An der Förde“ (1946) oder „48/17“ (1948) sind Arbeiten, deren Gebilde zwar schon weit entfernt sind von der erfahrbaren Wirklichkeit, die aber gleichwohl noch Abbildcharakter besitzen; Farben und Linien haben noch keine Selbständigkeit erlangt, sind noch an die Dinge gebunden, die sie darstellen.
Wenige Jahre später dann experimentiert Schultze mit der Autonomie der malerischen Elemente und wird so zum Mitbegründer des Tachismus in Deutschland. Farben und Linien bewegen sich nun frei über das Papier und erstarren in offenen Konfigurationen. Fast immer aber erscheint plötzlich irgendwo, wie um das Auge zu narren, ein kleines Stück bekannter Realität, denn Schultzes Bilder, mögen sie auch ihren eigenen Gesetzen folgen, stehen immer in Kontakt mit unserer Wirklichkeitsebene. In den sechziger Jahren beginnen sie, z.B. in Form von „Zungen-Collagen“, auch in die dritte Dimension, ins Relief, zu wachsen. Schultze arbeitet nun regelrecht gegenwartsbezogen, indem er Schaufensterpuppen verfremdet oder aus Reklame- und Illustriertenfotos Collagebilder verfertigt. Versatzstücke moderner Realität dienen ihm als Nährboden für die märchenhafte Weit seiner Migofs, skurriler, manchmal bedrohlicher Kopfgeburten des Künstlers, die nicht selten wie Mißgeburten anmuten.
Der größte Teil der ausgestellten Werke schließlich stammt aus den siebziger und achtziger Jahren und zeigt, wie konsequent Schultzes Spätwerk sich wieder in die Fläche zurückbegeben hat - keineswegs jedoch in der Absicht, zu vereinfachen, sondern vielmehr, um, wie der Künstler einmal selbst gesagt hat, „den Leseprozeß beim Betrachter noch mehr zu komplizieren“. Diese jüngsten Papier-Arbeiten besitzen eine erstaunliche Plastizität, und es ist Schultze hier gelungen, Räumlichkeit in die Ebene zu holen, ohne dem alten Illusionismus zu verfallen. Seine phantastische Bilderwelt hat sich endgültig zu einem eigenständigen Reich gefestigt, in dem er sich mit spielerischer, doch sicherer Geste bewegt.
BONN. Rheinisches Landesmuseum, TÜBINGEN Kunsthalle, LUDWIGSHAFEN, Wilhelm-HackMuseum, NÜRNBERG. Kunsthalle 1984