...so gräßlich häßlich?"
Gedanken zur neuen Kunst gedacht beim Wiederlesen von Adornos „Ästhetischer Theorie“ (Kunstforum 68, 12/1983)
Indifferent und entschieden, ablehnend und enthusiastisch, hilflos und selbstbewußt, in jedem Falle aber vielfältig und kontrovers sind die Reaktionen, die die neue deutsche Kunst seit ihrem spektakulären Debüt vor rund fünf Jahren in der deutschen Kulturlandschaft gezeitigt hat; und bisweilen kann der kunstinteressierte Beobachter der Szenerie sich eines beklemmenden Gefühls nicht erwehren, muß er doch, in Anbetracht so mancher Kritikeräußerung, zu dem Schluß kommen, daß die Kunst, von einigen schon gegen Ende der siebziger Jahre für tot erklärt, nun endgültig im Begriff ist, unter wilden Zuckungen ihren Geist aufzugeben. Hier und da schien man sich gar genötigt, die letzten Reserven des kunstkritischen Repertoires anzubrechen und konfrontierte die Kunst, wohl in der Absicht, sie in einen existentiellen Gewissenskonflikt zu stürzen, mit einem geradezu vernichtenden Urteil: häßlich sei sie! Oder, in koketter Abschwächung: „schön hässlich“; immerhin nämlich berufe sie sich auf eine „Tradition der ‚häßlichen Malerei’“ - gemeint ist der deutsche Expressionismus (nachzulesen in ,,Kunstforum" Nr. 47, S. 126).
„Schön“ und „hässlich“ – zwei Begriffe, mit denen in der aktuellen Debatte recht großzügig operiert wird, deren Definition aber regelmäßig Kontroversen heraufbeschwört, die denen um die Frage, was denn nun eigentlich Kunst sei, kaum nachstehen. Das endet dann meist in einem Chaos der Unverbindlichkeiten, hilflos zieht man sich auf die höchst subjektive „ich finde“-Position des Geschmacksurteils zurück. Was immer das Häßliche auch sei, der bürgerlichen Ästhetik (zu deutsch: der Lehre vom Schönen) lag immer daran, seine Existenz in der Kunst zu beschneiden, wo sie es nicht völlig ausmerzen konnte. Oberste Aufgabe von Kunst sei es, den Widerstreit zwischen den ,,schönen" und den „häßlichen" Elementen zugunsten des Schönen zu entscheiden, jeglichen Widerspruch in Wohlgefallen aufzulösen. Form, als die Funktion des Schönen, müsse das Häßliche sich einverleiben, es durch Gestaltung integrieren. „Häßliche" Kunst sei keine Kunst.
„Lieber tot als häßlich?" mag die Kunst sich denn auch angesichts der jüngsten Attacken gefragt haben - übrigens nicht zum ersten Mal, denn das Problem ist so alt wie die Kunst selbst, mindestens so alt wie die Moderne. Aber sterben wollte sie auch dieses Mal nicht.
Und das keineswegs aus Trotz. Kann sie sich doch auf einen der bedeutendsten Philosophen unserer Zeit berufen, der dem Häßlichen in der Kunst das Wort geredet hat, wenngleich ihm die Auseinandersetzung mit der „Neuen Häßlicbkeit“ der jüngsten Kunst erspart blieb, weil er 1969 starb: Theodor W. Adorno.
In seinem letzten Werk, der Ästhetischen Theorie, forderte er: „Kunst muß das als häßlich Verfemte zu ihrer Sache machen, nicht länger um es zu integrieren, zu mildern oder durch den Humor, der abstoßender ist als alles Abstoßende, mit seiner Existenz zu versöhnen, sondern um im Häßlichen die Welt zu denunzieren.“
Den Ursprung des Häßlichen hatte schon 1853 Karl Rosenkranz in seiner „Ästhetik des Häßlichen" in der Unfreiheit des Menschen gefunden, und auf ebenjener Erkenntnis basiert auch Adornos Theorie vom Häßlichen in der Kunst. Seinem Wesen nach ist das Häßliche jenes Moment, in welchem die Menschen ihre eigenen archaischen Ursprünge wiedererkennen. Es ist das Furchtbare, das fürchten macht, weil es sich nicht erklären, nicht ins rationale System einordnen läßt. In diesem Sinne ist es das größte Hindernis auf dem Wege des Menschen zu seiner Emanzipation, auf seiner Suche nach Identität mit der Welt. Erst der aufgeklärte Mensch des späten 18. Jahrhunderts war denn auch in der Lage, das Häßliche, rückblickend, beim Namen zu nennen; erst jetzt konnte „Ästhetik", als die Betrachtung der Phänomene unter formalen Gesichtspunkten, zur philosophischen Disziplin erhoben werden.
Der menschliche Befreiungsprozeß aber ist, nicht nur nach Adorno, nicht abgeschlossen, ja, Aufklärung hat sich in ihr Gegenteil verkehrt. Solange Entfremdung das menschliche Dasein beherrscht, ist es die wichtigste Aufgabe der Kunst, im Häßlichen die Unfreiheit anzuprangern: „Die Kunstwerke aber gelangen, die von dem Amorphen, dem sie unabdingbar Gewalt antaten, in die Form, die als abgespaltene es verübt, etwas hinüberretteten." Die Kunstwerke hingegen, die das Häßliche aufnehmen, nur um es, entsprechend den traditionellen ästhetischen Postulaten, in der formalen Einheit aufgehen zu lassen, lügen, weil sie Spannung, das notwendige Element jeder Kunst, auflösen, ohne deren Teilmomenten gerecht zu wer den. „Erhebt in den neuen Kunstwerken Grausamkeit unverstellt ihr Haupt, so bekennt sie das Wahre ein, daß vor der Übermacht der Realität Kunst a priori die Transformation des Furchtbaren in die Form nicht mehr sich zutrauen darf."
Doch geht es keinesfalls darum, Abbilder von „schlechter" Realität zu schaffen, um die Welt durch ihr eigenes Spiegelbild zu erschrecken; vielmehr muß Kunst durch sich selbst, durch ihre eigene Beschaffenheit, gesellschaftliche Wirklichkeit nachvollziehen und gleichzeitig, vermöge ihrer Zweckfreiheit, negieren. Daß dies, in letzter Konsequenz, zu einer Auflösung der Kunst durch sich selbst führen kann, ist nicht aus geschlossen: „Absehbar wird der Prospekt einer Absage an die Kunst um der Kunst willen. Er deutet sich an in denjenigen ihrer Gebilde, die verstummen oder verschwinden. Auch sozial sind sie richtiges Bewusstsein: lieber keine Kunst mehr als sozialistischer Realismus.'
Ähnlich vehement sträubt sich Adornos Theorie auch gegen die Kunst seiner westlichen Zeitgenossen: den Konstruktivismus der Minimal-Artisten. Ihren Werken wirft er Spannungsverlust, Gleichgültigkeit in Verhältnis von Teilen und Ganzem vor. Das Resultat sei eine Kunst, die ihr Wesentliches, eben diese unabdingbare Spannung, verleugne. „Jene" - die konstruktivistische Kunst – „möchte auf ihrer quasi unaufhaltsamen Bahn, die außer sich nichts duldet, sich zu einem Wirklichen sui generis machen, wie sie gerade die Reinheit ihrer Prinzipien den auswendigen technischen Zweckformen entlehnt. Als zweckfrei aber bleibt sie in der Kunst gefangen. Das rein konstruierte, strikt sachliche Kunstwerk geht vermöge seiner Mimesis an die Zweckformen in ein Kustgewerbliches über ‚Zweckmäßiges ohne Zweck wird zur Ironie.' Und an anderer Stelle: „Gänzlich versachlicht wird das Kunstwerk, kraft seiner puren Gesetzmäßigkeit, zum bloßen Faktum und damit als Kunstwerk abgeschafft."
Aus dieser Erkenntnis heraus entwickelte Adorno eine erstaunlich genaue Prognose dessen, was die Kunst(welt) in der Tat zehn Jahre später ins Wanken brachte: „Dagegen" - gegen die Erstarrung de Kunst in einer zwecklosen Zweckmäßigkeit – „hat bislang nur eines geholfen: der polemische Eingriff des Subjekts in die subjektive Vernunft" - welche sämtlicher Zweckrationalität zugrunde liegt -, „ein Überschuß seiner Manifestation über das, worin es sich negieren möchte. Nur im Austrag dieses Widerspruchs, nicht in seiner Glättung, kann Kunst irgend noch sich erhalten."
Wieder einmal haben wir es, diesmal aus berufenem Philosophenmund, mit einer treffenden Analyse der Situation zu tun, in die die Kunst sich gegen Ende de 70er Jahre verstrickt hatte - aussichtslos, wie viele damals glaubten. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, wie Adorno die neue Kunst beurteilt hätte; theoretisch hat er sie vorweggenommen: die polemische Auflehnung des Subjekts gegen eine durch und durch vernunftbestimmte Kunst.
Doch halt! Würde die neue Kunst in diesem Akt des Auflehnens sich erschöpfen, dann zielte sie genauso an ihrem Wesentlichen - dem Sichtbarmachen von Spannung und Widersprüchlichkeit - vorbei wie der rationale Purismus der Minimalisten und Konzeptualisten; dann träfe auf sie das zu, was Adorno auch dem Jugendstil attestiert: sie wäre „die in Permanenz erklärte Pubertät: Utopie, welche ihre eigene Realisierbarkeit diskontiert.“ Und genau diese Gefahr barg die neue Kunst in ihren Anfängen in sich: Nicht mehr zu sein als ein rebellisches und provokantes Auftrumpfen des Irrationalen gegenüber dem Rationalen, des Subjektiven gegenüber dem Objektiven, des Ausdrucks gegenüber der Konstruktion.
Erst in einer neuerlichen Verbindung mit dem formenden Moment der Vernunft kann sie zu wirklich neuen Kontinuitäten gelangen, d.h. auch, sich selbst legitimieren. Schiere Provokation durch Häßlichkeit wird schnell uninteressant und leer, wenn sie nicht in der Lage ist, zu etwas zu provozieren. Die rauschhafte Explosion der Farben, der Gesten und der herausfordernden Sujets hat - das beweist der nicht minder rauschhafte Erfolg - ihre Wirkung erzielt und ihre Schuldigkeit getan. Die Chance der neuen Kunst besteht darin, den spektakulären Triumphzug des Irrationalen, Subjektiven und Rauschhaften auf einer tragfähigen Basis fortzusetzen, dem Bauch seinen Kopf zurückzugeben - und das, ohne erneut in Dogmen oder Routine zu erstarren. Denn: „Zweierlei ist es, Irrationales - die Irrationalität der Ordnung wie der Psyche - künstlerisch zu manifestieren, zu formen und damit in gewissem Sinne rational zu machen, oder Irrationalität zu predigen.“ Überleben wird die neue Kunst dort, wo sich diese Einsicht in den Werk durchsetzt; daß sie überleben wird, steht gleichwohl bereits jetzt außer Zweifel, denn in den besten Art ten der jüngsten Zeit ist diese Tendenz nicht mehr zu verleugnen, ist die Geste zur Haltung geworden.
Genausowenig aber ist zu verleugnen, daß der Kunstbegriff sich momentan in einem radikalen Wandlungsprozeß befindet; ja, die Kunst ist dabei, ihren eigenen Begriff zu sprengen. Was traditionelle Ästhetik unter Kunst versteht, wird, der Zeitgeist macht es möglich, höhnisch zum „Selbstbedienungsladen" degradiert, taucht lediglich noch auf als ironisches Zitat. „Stillosigkeit“ heißt der neue Stil, und Konsequenz findet sich einzig noch in der Inkonsequenz. Was hätte Adorno dazu gesagt? „Die Alternative, die in der Krise sich öffnet, ist die, entweder aus der Kunst herauszufallen oder deren eigenen Begriff zu verändern.“ Das Frappierende ist, daß die neue Kunst offensichtlich die Fähigkeit besitzt, sozusagen mit dialektischer Virtuosität, beide Alternativen zu vereinen.
(Alle Zitate aus: Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Nr. 2, Frankfurt 1970.)