Zeitenwende - Arbeiten von Andreas Streun aus dreißig Jahren

(Vorwort zum Katalog 2011; Website Andreas Streun)

Ein fremdartiges, männliches Zwischenwesen, das Gesicht von Erschöpfung verzerrt, robbt sich vom Meer an Land; seine Hand krallt sich mit letzter Kraft in den Kies des Strands. Von den Schultern abwärts ist das Geschöpf in eine pelzige Hülle einbandagiert, aus der es sich, wie die Puppe aus dem Kokon, allmählich zu befreien scheint. Ein geschweifter Himmelskörper rast durch die Nacht und färbt sie schmutzig-oliv. Blitzhaft erhellt sein Licht die gespenstische, wie eingefroren wirkende Szene. Felsen in der Brandung suggerieren Festigkeit und Dauer.

„In der Nacht wurde er angespült im Zeichen des Kometen“, raunt dazu der geheimnisvolle Kommentar des Künstlers. Der Komet bewegt sich auf einen barocken Wolkenberg zu, hinter dessen zerklüftetem Rand der Tageshimmel blau erstrahlt: „Von Osten zieht gutes Wetter auf“. Das lässt hoffen für den geschundenen Wassermann; bald wird er sich aus dem Kokon schälen, und, so jedenfalls sieht es die Regie des Künstlers vor, zur Zauberkugel greifen, die als pink illuminierte Perle im Schutz einer Riesenmuschel neben ihm im Kies schimmert. Drei skurrile Zeugen wohnen dem sonderbaren Geschehen bei, werden aber — vermutlich aufgrund ihrer karnevalesken Aufmachung — als „unglaubwürdig“ eingestuft. „Wiedergeburt“ lautet der Titel dieses beunruhigenden, packenden Gemäldes von Andreas Streun aus dem Jahr 2009. Wer den Künstler persönlich kennt, entdeckt einen möglichen Interpretationsschlüssel in den selbstbildnishaften Zügen des angeschwemmten Chimärenmannes, die einen subjektiven, autobiographischen Kontext nahe legen. Die Tendenz zur Verarbeitung eigener Erlebnisse prägt viele seiner Werke und ist in jüngerer Zeit zu einem Wesensmerkmal seiner Kunst geworden.

1960 in Königstein/Taunus geboren, liebäugelte Andreas Streun schon mit siebzehn Jahren mit einem künstlerischen Beruf; doch enttäuscht von der öden Fachdidaktik, gab er sein Studium der Kunsterziehung nach zwei Semestern zugunsten der Physik wieder auf. Heute arbeitet er im Hauptberuf als erfolgreicher Physiker am Paul-Scherrer-Institut im Schweizerischen Villigen. Als Maler bildete er sich fortan autodidaktisch weiter und eignete sich unterschiedlichste künstlerische Techniken und Verfahren an. Parallel befasste er sich intensiv mit der Kunstgeschichte; beides schlägt sich bis heute in seiner Arbeit nieder. Und auch als Schriftsteller ist Andreas Streun tätig, er verfasste zahlreiche Kurzgeschichten (einige davon erschienen 2001 in dem Band „Wüste“) und vollendete 1991 den utopischen Roman „Die Reise nach Kometenburg“, „eine Vision von Schönheit und Stille, Licht und Liebe — und der Versuch, die Sexualität durch den Rausch zu ersetzen.“ (A. Streun).

Sowohl als Maler wie auch als Autor lag ihm stets an einer möglichst klaren, geschliffenen Ausdruckweise. Denn umso — scheinbar — realitätsnäher die Sprache, desto größer der Kontrast zu den surrealen Inhalten seiner Bilder und Texte. In beiden Sparten nutzt Andreas Streun die Präzision seiner Beobachtung als Ausgangspunkt für genau durchkomponierte, mit Fragmenten der Alltagsrealität fein durchwirkte Abbildungen seiner Phantasien, Alpträume und Visionen. Anfang der achtziger Jahre inszenierte er, im Zusammenhang mit seinem Roman „Die Reise nach Kometenburg“, außerirdische Gesellschaftssatiren („Vernissage“) in unterkühlten, zentralperspektivischen Raumfluchten. Wenig später entstand mithilfe der Spritzpistole die unheimliche Serie „Bunker“ (ca. 1985). Die altmeisterliche Eitempera-Malerei, die ihn heute vor allem interessiert, studierte er seit 2007 in Sommerseminaren bei Professor Philipp Rubinov-Jacobson aus der Wiener Schule des Phantastischen Realismus. Rubinov war Schüler von Ernst Fuchs, mit dessen Werk auch Streun sich intensiv auseinandersetzt. Darüber hinaus bildete er sich bei Dietmar Gross (Oppenheim) in Portrait- und Aktzeichnung fort.

Auf dem Bild „Wiedergeburt“, das trotz seiner eher bescheidenen Maße (50 x 40 cm) voll Phantasie und Fabulierlust steckt, sind alle Bildelemente bis ins Detail ausgearbeitet und erinnern in ihrer akademischen Malweise an den „Verismus“ alter Meister wie Bosch oder Grünewald. Auch mit der Malerei des Surrealismus und Phantastischen Realismus weist Streuns Kunst manche Verwandtschaft auf. „Veristische“ Surrealisten wie Magritte oder Dali arrangierten, beeinflusst von Methoden der Psychoanalyse, malerische Nachahmungen realer Objekte, bei gleichzeitiger Missachtung oder Verfremdung der rationalen Bildlogik, zu ihren damals wie heute unergründlichen (Alp)Traumvisonen. Bei Andreas Streun begegnet freilich kein „Regenschirm einer Nähmaschine auf dem Seziertisch“, wie der Dichter Lautréamont seine berühmte Definition der assoziativen surrealistischen Verfahrensweise bereits 1874 formulierte. Streuns intellektuelle und künstlerische Welt ist die eines gebildeten, aufmerksamen und kritischen Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts. Sie speist sich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen, von den antiken Mythologien über Kunstgeschichte, Philosophie und Literatur bis hin zu Sujets aus Esoterik, Science-Fiction und Trivialkultur. Auch die sinnliche Sphäre von Sex und Erotik kommt bei Streun keinesfalls zu kurz. Und überall locken — scheinbar — fröhliche Kindheits-Reminiszenzen das Auge des Betrachters mit bunt kostümierten, verrückten Fabelwesen, glitzernden Illuminationen und buntem Tand — aber Vorsicht, Falle!

„Meine Freunde trinken nicht“ heißt eine Arbeit von 2009. Auch hier bildet wieder ein Selbstporträt des Künstlers — oder seines ihm zum Verwechseln ähnlichen alter egos — das Zentrum; links und rechts flankieren ihn seine unechten Freunde: ein perfide grinsendes Skelett und eine blasierte, schamlose Schaufensterpuppe mit Plastikfrisur und drehbaren Schultergelenken. Der Künstler selbst, als einziger Mensch aus Fleisch und Blut in diesem Trio Infernal, fixiert den Betrachter über den Rand seiner Brille hinweg mit melancholischem, von anderthalb Flaschen Rotwein schon leicht getrübtem Blick.

Dem Naturwissenschaftler Dr. Streun ist nichts Menschliches fremd, schon gar kein menschliches Skelett. Ein solches, wenn auch nur in der Medizinstudentenversion aus Plastik, ist ebenso stumm wie ständig anwesend in seiner Malerwerkstatt. In jüngerer Zeit ist es zum beinahe omnipräsenten Statisten und Akteur auch innerhalb seiner Bilderwelt geworden.

Die Allegorie der Einsamkeit, dargestellt als Selbstbildnis mit Tod, taucht als kunsthistorischer Topos im Mittelalter auf. Das Barock erweiterte seine Ikonographie um zahlreiche Symbole der Sterblichkeit — Kerzen, Bücher, Musikinstrumente etc. — vor allem das zerbrechliche Glas wurde zum Sinnbild der Vergänglichkeit schlechthin. Die Finesse, mit der Andreas Streun die Flaschen und Gläser malt, die er gerade im Begriffe ist zu leeren, erinnert an die Kostbarkeit niederländischer Vanitas-Stilleben des 17. Jahrhunderts. Vor allem aber orientiert sich Streuns makabre Runde an spätromantischen Vorbildern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, z.B. den berühmten Selbstporträts mit Tod von Lovis Conrith (1896) und Arnold Böcklin (1872). Metamorphosen zwischen Realität und Traum, Rationalität und Wahnsinn, aber auch zwischen Depression und Hoffnung sind es, die den Künstler zu solch ausgefallenen Bilderfindungen inspirieren.

In „Die Stunde des Zweifels“ (2010) hat Streun sein Atelier in Basel zum Schauplatz einer alptraumhaften Szene gemacht. Erneut tritt der Künstler selbst auf, wenngleich nun als Beobachter in die Ecke gerückt. In der Pose des Rodinschen „Denkers“, ist er in die Betrachtung achtlos weggeworfener Utensilien seiner Kunst versunken: Bilder, Bücher, die Puppe und die Staffelei liegen vor ihm wie auf einem Abfallhaufen. Währenddessen vollzieht sich um ihn die höchst beunruhigende Dekonstruktion des Raums. Durchs Fenster fällt helles Licht auf den Boden, der sich nach und nach auflöst; immer breiter werden die Lücken zwischen den Dielen, und immer näher rückt der Abgrund; hinter der zerbröckelnden Zimmerwand tut sich eine desolate Science-Fiction-Landschaft mit glimmendem Vulkan auf. Vorne rechts hantiert das Gerippe mit einer Pistole — „Der Tod lädt die Waffe. Der Vulkan bricht bald aus.“ Auch dieses Bild steckt voller persönlicher Rückblicke. Die Pistole gehörte einst dem Vater, einem Förster, der damit verendenden Tieren den Fangschuss gab. Das brennende Haus verweist auf eine vergangene Zeit, als der Künstler mehrere Sommer lang ein einsames Haus in Schweden wieder herrichtete und bewohnte; auch das brennende Auto gehörte einmal  ihm, doch alles ist jetzt verloren. Der Zustand des Zweifelns wird hier ganz augenfällig mittels privater Bilder symbolisiert, während sich die Symbolik in anderen Werken — auch dem Künstler selbst — erst allmählich und im Nachhinein erschließt; ein Beispiel hierfür ist „Der Weg zum Eisnadelhaus“.

In „Das Ende“ (2009) begegnet uns das Skelett erneut, nunmehr als zynischer Genießer mit Zigarre und Whiskyglas — einen besonderen Genuss bereitet ihm offenbar ein grell aufglühender Atompilz.

Auch in „Der Kunstfehler“ von 2010 spielt das Gerippe die Hauptrolle; inmitten eines mediterranen Friedhofs ist es zu monströsem Leben erwacht. Seine Knochenhände haben nach dem leblosen Körper einer nackten jungen Schönheit gegriffen und reißen sie an sich. Triumphierend, aber auch erschrocken erhebt er seine Fratze über dem Mädchen — ist es nicht noch viel zu jung für den Tod? Hat er einen Fehler gemacht? Das Bild offenbart einmal mehr die kompromisslose Radikalität einer künstlerischen Welt, in der kein Tabu gilt und Tabuverweigerung sogar explizit zum Thema wird. „Ist es ein Kunstfehler, heute so etwas zu malen?“ fragt sich Streun in seinem Bildkommentar.

2007 entstand mit „Bonus“ das entlarvende Porträt des Schweizer Deutsche-Bank-Präsidenten Josef Ackermann. Mit dem ihm eigenen, um Anerkennung heischenden Feixen präsentiert der „Raubtierkapitalist“ in Riesenpranken seine Beute — eine sagenhafte Ansammlung von Gold und Geschmeide. Aus dem dekorativ gemusterten Bildhintergrund springen uns plötzlich „Glotzaugen und Fressmäuler und Arschlöcher...“ entgegen — „ Die globale Höllenmaschine des Kapitalismus“ so die Randbemerkung Andreas Streuns, der mit seiner tiefen Aversion gegen dergleichen Ausgeburten postmoderner Profitgier nicht hinterm Berg hält.

Ein nicht minder kritisches Urteil fällt er auch über die Kirche. Das Bild des Priesters (2008), welches er im Katalog dem Ackermann-Porträt bewusst gegenüberstellt, geht auf die Figur des Hohepriesters im Tarot zurück; dort steht dieser für Menschlichkeit und Güte; er ist zugleich der Papst. Bei Andreas Streun hingegen tritt auch dieser Hohepriester in der Rolle des Tods auf; anstelle der dreifachen Krone trägt er, als Zeichen seiner geistigen Degeneration, auf dem Kopf ein wurstartig gewundenes Gedärm. In seiner Rechten hält der Sensenmann ein Kruzifix, mit der Linken erstickt er einen sich verzweifelt wehrenden Mann in einem Müllsack — ein mehr als eindeutiges Spottbild auf eine Kirche, die dem Menschen zum Gefängnis wurde — „Jesus schreit!“

Das Tarot diente ihm seit 2000 wiederholt als Anregung zu seinen Gemälden. Es kann auch als Bindeglied zwischen der schockierenden Aktualität der Gegenwart und der visionären Künstler-Phantasie fungieren. So malte Streun 2004, ausgehend von der 16. Tarotkarte „Der Turm“, das Bild „Afrika erwacht“. Vordergründig behandelt er hier das spektakulärste Ereignis des beginnenden dritten Jahrtausends: den Anschlag auf das World Trade Center 2001. Die von Feuerbällen umtobten Turmsilhouetten sind einem jener legendären Fotos nachempfunden, die sich uns in den Tagen nach dem 11. September für immer einprägten. Streuns Gedenken gilt allerdings nicht nur den bei dem Attentat zu Tode Gekommenen, sondern darüber hinaus all jenen, die den im Trade Center getätigten Finanzgeschäften zum Opfer fielen. Der hilflos im Krater von „Ground Zero“ hingestreckte Körper einer jungen Schwarzen, um die herum sich die Knochen und Schädel der Toten türmen, wird zur mahnenden Allegorie unserer postmodernen Epoche, in der die Unterprivilegierten der armen Länder immer noch die Rolle der „Verdammten dieser Erde“ (F. Fanon 1961) spielen. In seinem Text „Manhattan“ schrieb Streun bereits 1995, sechs Jahre vor „Ground Zero“, seine kritischen Betrachtungen über das WTC nieder:

„Das neue triste Wahrzeichen New Yorks ist entlarvend: Denn in dieser Stadt geht es um Effektivität und Profit. Hier im Wall Street District vereinigen sich die Milliarden saugender Kanülen der multinationalen Vampire und füllen Computer mit Zahlenkolonnen, die anderswo Elend und Wüste bedeuten. Im World Trade Center wird unablässig Geld gezählt, es ist die Hochburg der Nihilisten.“ („Wüste“)

Doch es gibt immer auch Hoffnungen und Utopien einer harmonischen, friedlichen Welt in diesen Bildern. 2007 ließ sich Streun von der Tarot-Karte der „Scheiben-Prinzessin“ zu einem wie verzaubert anmutenden Porträt der Erd-Fee als „Hüterin der Felsen, Kristalle und Fossilien“ anregen — ein Anlass für den Maler, seine exquisite Feinmalerei an glitzernden Sternen und Steinen unter Beweis zu stellen. Was aber sind Fossilien anderes als versteinerte Tiere? „Als die Tiere sich vor Angst in Steine verwandelten“ betitelte Streun 2008 ein Bild aus der Serie „Vorzeichen einer Zeitenwende“, die erneut ein surreales Endzeit-Szenario mit explodierendem Maschinenpark entwirft. — (Heute erstarren die bedauernswerten, verängstigten Tiere nicht zu Steinen, sondern zu Tiefkühlkost)

Doch ohne seinen hintergründigen, meistens ein wenig makabren Humor wäre Streuns Bildwelt unvollständig beschrieben. Die komische Vision einer Zeitenwende wird bei ihm zur  „Liebeswüste“, einer archaischen Felslandschaft, vor der sich die Agenten des Sexus — Hand und Herz, Mund und Auge, Busen und Vulva —  selbstbewusst aufbauen, von ihren biologischen Funktionen allerdings isoliert und zu mechanischen Apparaten degradiert. Ein raketenartig erigierter Penis ist aber schon  halb umgestürzt — ein ironischer Kommentar auf den abgewirtschafteten Potenzkult.

Zu derselben Bildgruppe „Zeitenwende“ gehört aber auch eine strahlende Apotheose der Jungfrau Hripsime, einer frühmittelalterlichen Heiligen, die heute noch in Armenien verehrt wird. Ihre Lichtgestalt präsentiert der Künstler vor der ihr gewidmeten, 618 errichteten Kirche in Etschmiadsin, dem spirituellen Zentrum des Landes.

Streuns Kunst ist unmittelbar politisch und zugleich höchstpersönlich; in dem Gemälde „Die Zukunft Armeniens“ verbindet er beide Aspekte: Es erinnert an die Bekanntschaft mit einem jungen armenischen Physiker-Kollegen, der den Künstler auf das tragische Schicksal seines Volks aufmerksam machte. Der 1915-17 an den Armeniern verübte Völkermord, dem zwischen 800.000 und 1,75 Millionen Menschen zum Opfer fielen, musste bis vor kurzem in der Türkei unter Androhung von Strafe verschwiegen werden; nicht vor April 2010 kam es zu einer ersten türkischen Gedenkveranstaltung für die Ermordeten.

Im Bildhintergrund, jenseits eines symbolischen Stacheldrahtzaunes, erhebt sich majestätisch und schneebedeckt der biblische Berg Ararat — Noah soll hier nach der Sintflut gelandet sein. Im Vordergrund aber präsentieren sich die armenischen Freunde — der junge Wissenschaftler, sein Doktorvater und eine leicht gewandete, sinnliche Folklore-Tänzerin — als stolze Vertreter einer traditionsreichen Nation. Erneut verblüfft die altmeisterlich detaillierte Ausarbeitung des Bilds sowie sein ausgeklügeltes Arrangement, das die diversen Komponenten zu einem komplexen Ensemble verschmilzt, fast wie ein imaginär in die Zukunft entworfenes Historienbild.

Mehrfach setzte sich Streun mit dem Tod seines Vaters auseinander. Über dessen qualvolles Sterben berichtet er auch in seiner Kurzgeschichte „Störfall“ (in „Wüste“, 2001). Der Vater brachte dem Sohn das Interesse an der Natur nahe und ermunterte ihn von klein auf zum Malen und Zeichnen. Das Bild „Der Vater bringt mir einen Baum“ transponiert die Erinnerung an ihn in eine anonyme Vorstadtlandschaft mit monotonen kubischen Reihenhäusern. Die Gestalt des Vaters taucht transparent am Bildrand auf, wie eine epiphane Erscheinung des sich kaum umwendenden Sohns. Aufs Dach des alten Ladas ist ein Taunus-Baum geschnallt, der die vom Vater an den Sohn weitergegebene Lebenskraft versinnbildlicht. Die Erde ist ausgetrocknet; am Himmel baut sich dramatisch ein Wolkenberg auf.

„Der Tod“ — nach der Tarotkarte XIII — thematisiert das Sterben des alten Mannes, der nun alles loslassen muss. Als kunsthistorisches Vorbild zitiert Streun den Isenheimer Altar von Matthias Grünewald, aber die Aureole, von der umgeben Christus im Original seine Auferstehung feiert, ist leer und kalt. Aus dem Horrorkabinett der Grünewaldschen Quälgeister hat Streun einen Außerirdischen zum Fährmann des Alten ins Reich der Toten auserkoren — „fremdartig aber freundlich“ fasst er den Todgeweihten am Arm und führt ihn hinfort, für immer weg von seinem irdischen Besitz.

Streuns Vater erlag einem unheilbaren aggressiven Hirntumor, dem Glioblastom; in seiner Aquarellserie „Fratzen“ (1994-97, o. Abb.) hat der Sohn diese Krankheit in zahlreichen Variationen des blanken Horrors veranschaulicht, welcher nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch die mit diesem verbundenen Menschen unerträglich quält.

In der Kurzgeschichte „Allein und einsam“ bekennt sich Streun zu der kreativen Potenz, welche in ihm gerade die finsteren, aussichtslos erscheinenden Situationen des Daseins freizusetzen vermögen:

„Solche Gruften der Seele nähren schwarze Romane. Und tatsächlich kann ich einzig durch die Ästhetisierung aus der Einsamkeit herausfinden: Ich formuliere meinen Horror in kranken Texten und ekligen Gemälden. In der kreativen Arbeit höre ich auf zu leiden, gerate in Fluss und aus der Einsamkeit wieder in ein glückliches Alleinsein.“

Gleichwohl muss man sich davor hüten, Streuns Malerei als Selbsterfahrung misszuverstehen, auch wenn der therapeutische Faktor für ihn oft eine Rolle spielt; nicht nur der perfekte Schliff seiner Malerei, auch seine intelligenten Kompositionen, welche disparate Elemente zu ebenso komplexen wie autonomen Bildentwürfen zusammenfügen, machen Andreas Streun zu einem gleichermaßen professionellen wie originellen „Bild-Erfinder“. Seine Arbeiten haben in den letzten Jahren kontinuierlich an inhaltlicher Komplexität und malerischer Souveränität gewonnen. Häufig beziehen sie ihre eigenartige Spannung gerade aus jener in dem Zitat geschilderten Ambivalenz zwischen dem Erleben des Schreckens und dem Versuch seiner Überwindung mit den Mitteln des Geistes, der Liebe und der Kunst.