James Reineking – Vorwort


Wiederholt hat James Reineking in Gesprä­chen und Interviews auf seine Zugehörigkeit zu einer Bildhauergeneration hingewiesen, die - als erste - keinerlei Rücksicht mehr auf „außerbildliche“ Wirklichkeiten zu nehmen hatte, um statt dessen Formen für autonome, auf nichts als sich selbst bezogene Dreidimensionalität zu erfinden und zu erproben. Zu den minimalistischen Formreduktionen, deren Schöpfer - wie z.B. Carl Andre oder Richard Serra - sich im Laufe der 70er Jahre immer entschiedener auf reine Geo- und Stereometrie konzentrierten, steht Reinekings Werk in naher Verwandtschaft: Ähnlich radi­kal und überzeugend äußert sich in seinen Arbeiten eine künstlerische Haltung, deren wesentliche Errungenschaften bereits in den Meisterwerken von Brancusi, Arp oder Pevsner ihren Ausdruck fanden: die Tendenz zur Überwindung der traditionellen raum-verdrängenden Kernplastik zugunsten von den Raum strukturierenden und aktivierenden Lösungen prägen diese Haltung ebenso wie die Erkenntnis, daß die Präsenz von reinem plastischem Raum dann am größten ist, wenn das plastische Gebilde sich vom Bezug zur dinglichen Realität weitestmöglich lossagt und also „Form Materie nicht subordiniert, sondern sie freisetzt“(1).

Gottfried Boehm, der dies in einem grund­legenden Aufsatz anläßlich des Skulpturen-projektes in Münster 1978 - zu dem übrigens auch James Reineking einen Beitrag leistete - feststellt, macht hier außerdem darauf auf­merksam, daß es in diesem relativ neuen Verständnis von Skulptur vor allem auf die Funktion der Oberfläche ankommt. Er nennt sie die „Haut der Materie“, die den ‚Aus­tausch zwischen Innen und Außen’ ermög­licht - „Membran, ... durch welche die zurückgedrängte Kraft der Materie, freige­setzt durch künstlerische Arbeit am Äußeren des Materials, nach außen drängt und sichtbar wird“ (2).

In „Conversion“,  einem frühen Bodenstück Reinekings von 1971, scheint dieser Grundsatz zeitgenössischer Bildhauertheorie Gestalt anzunehmen: Ganz minimal erhebt sich die­se Skulptur von der Bodenfläche aus in die Höhe: oder besser: eine Hälfte der Skulptur tut dies. Ihr anderer Teil zieht sich flach und schmal, als dünne Stahlblechbahn, durch den Raum - mit über drei Metern genau zehnmal so lang wie breit. An einem Ende stehen daneben - als Pendant - zehn übereinander gestapelte Stahlquadrate von gleicher Brei­te. Ausgehend von einem gemeinsamer Grundmaß demonstriert Reineking hier symbiotisch zu einer Skulptur miteinander verschmolzen die größte Ausdehnung und die kleinste Zusammenballung ein- und derselben Masse in ihrer jeweils klarsten Form. Darüber hinaus führt die Arbeit vor, in welch  unausgewogem Verhältnis die Konzentration der Masse einhergeht mit Oberflächenverlust einerseits und Volumengewinn andererseits. In der Übereinanderschichtung der Quadrate macht sich ein Moment der inneren Spannung bemerkbar: Der flächige Kontakt der Materie mit Um-Raum und Unter-Grund verwandelt sieh in der Schichtung zu einem Kontakt mit sich selbst.

Besonders überschaubar und plausibel tritt Reinekings bildhauerisches Prinzip in sei­nen frühen, zweidimensionalen Wandarbeiten zutage. „Three Points in a Square“ geht - wie viele der älteren Stücke - aus von einer quadratischen Stahlplatte, aus der Reineking einen Kreissektor ausgeschnitten hat. Der Mittelpunkt des Kreises halbiert eine - imaginäre – Linie, deren einer Endpunkt wiederum die untere Seite des Quadrats hal­biert: der andere markiert das obere Drittel seiner linken Seite. Dabei entspricht der Kreisdurchmesser zugleich dem Abstand zwischen beiden Punkten. Die Form des Kreisausschnittes bildet sich aus einem rechtwinkligen Dreieck und einem Halbkreis, dessen Durchmesser identisch ist mit der Hypothenuse des Dreiecks. Dessen Schenkellängen betragen - logischerweise - ein Halb und zwei Drittel der Quadratseiten. Um den Mittelpunkt herum wurde der aus­geschnittene Kreissektor dann um 135 ge­dreht, sodaß der längere der beiden Schenkel innerhalb des - ehemaligen - Qua­drats eine Parallele bildet zum Verlauf des jetzt nurmehr durch seine Endpunkte ange­zeigten Durchmessers. Der rechte Winkel des Ausschnittes tangiert den in das Quadrat eingeschnittenen Kreisbogens genau an sei­nem Schnittpunkt mit einer - wiederum imaginären - Diagonalen, die das Quadrat von links oben nach rechts unten in zwei kongru­ente Hälften teilen würde. Entstanden ist eine vollkommen neue Form. in der das Quadrat ebenso enthalten ist wie der Kreis und das Dreieck. Alle Figuren bedingen ein­ander und leiten ineinander über, aber keine tritt in ihrer reinen Gestalt in Erscheinung. Ein offenes und ein geschlossenes Kreissegment, beide als negative Aussparungen gegeben, erweitern die Fläche dieser neu erfundenen Form, ohne daß eine Vermeh­rung ihrer Masse stattgefunden hat. Die zu­rückgelegten Schritte: Bestimmung von Kreismittelpunkt und Radius, Wahl des Dre­hungswinkels oder der Maßverhältnisse usw. erscheinen zwar logisch und somit nachvollziehbar, ihre spezifische Konstella­tion funktioniert allerdings nur innerhalb der jeweiligen Arbeit, denn sie ist frei von Verpflichtungen gegenüber einer äußeren Logik. Für Reineking verkörpert die interne Ordnung seiner Stücke eine Art „unlogische Logik“, einen Widerspruch, den er folgendermaßen kommentiert: „Mit Regeln kann man auf zweierlei Art umgehen: Entweder sind sie einengend, oder sie geben totale Freiheit... Für mich sind meine Regeln nicht einengend, sondern wie Gummibänder. Weil ich die Regeln selber aufstelle, kann ich sie ausdehnen so weit ich will. Eine meiner Regeln lautet, daß die Dinge mit sich selbst in Einklang sind.“(3)

Legte der Künstler bei „Conversion“ und auch bei „Three Points in a Square“ recht­eckige Figuren als Ausgangsflächen seiner Bearbeitung zugrunde, so gewinnt im folgenden nach und nach der Kreis - als voll­kommenste Figur ohne Anfang und Ende - immer mehr an Dominanz. Bereits 1972 thematisierte die Bodenarbeit „Circle Squared“ das Verhältnis zwischen Quadrat und Kreis auf sehr anschauliche Weise: Aus einem Stahlquadrat - dessen Ausmaße übrigens, wie die meisten Skulpturen, dem menschli­chen Maß angepaßt sind - schnitt der Künst­ler konzentrisch eine Kreisform aus. Deren geringster Abstand zu den Quadratseiten be­trägt ein Zehntel von diesen. Das Quadrat wurde dann über den flach am Boden lie­genden Kreis gewölbt, so daß die beiden aufliegenden Seiten die Kreisseheibe an dieser schmalsten Stelle berühren. Die Wölbung des Quadrats beschreibt wiederum einen Kreisbogen, der, im Geiste vervollständigt, zu zwei Dritteln im Boden verschwände. In zwei Schritten hat das Quadrat eine Kreis­fläche hervorgebracht, über die es sich er­hebt und dabei selbst wieder zur Kreisform ansetzt.

„Trace“, ebenfalls aus dem Jahre 1972, stellt eine weitere Variante der zahllosen Bezie­hungen vor, die Kreis und Rechteck im Werk James Reinekings miteinander einge­hen: Eine rechteckige Stahlplatte wurde ent­lang einer einem Kreis entnommenen Bogenlinie in zwei nach Masse und Gewicht identische Teile zerlegt. Das positive Kreissegment wurde gebogen und seinem flach am Boden liegenden negativen Pendant so gegenübergestellt, daß sich am Boden die Andeutung eines Kreises ergibt, der sich in der Imagination des Betrachters vollendet. Max Imdahl, der sich in einem kurzen, prä­gnanten Aufsatz mit dieser Arbeit auseinandersetzte,  brachte deren Wesen folgendermaßen auf den Punkt: „Das Be­dingte ist - ohne jemals aufzuhören, das Bedingte zu sein - zugleich das Bedingen-de.“ (4) Bemerkenswert erscheint darüber hin­aus Imdahls Beobachtung hinsichtlich des Betrachterverhaltens: Es besteht nämlich ganz offensichtlich eine psychologische Hemmschwelle, zwischen den beiden Tei­len hindurchzugehen, da ein solches Durch-Schreiten die Skulptur stören und sie in ihrer Integrität verletzen würde; den vermeintlich „leeren“ Raum zwischen den beiden Stücken hat sich die Skulptur als Bestandteil angeeignet.

In „Touching”, in zwei Ausführun­gen 1971 und 1978 entstanden, wird das Rechteck schließlich zum dem Kreis untergeordneten, davon regel­recht „umzingelten“ Element: Eine rechteckige Stahlplatte, von doppelter Breite wie Höhe, halbiert als Durchmesser einen Kreis, der sie spiralig umschließt. Nur eine Kante des Rechtecks und der schwerste Punkt des Stahlringes berühren den Boden – die Skulptur hat sich ihren eigenen Ruhepunkt ge­sucht. Um die Skulptur in ihrer Gesamtheit und Komplexität zu erfahren, muß man sie umschreiten, denn erst die allseitige Wahr­nehmung der Arbeit ermöglicht es dem Be­trachter, sie zu ihrem Ursprung zurückzuführen - und sie zugleich über ihre Materialität hinauszudenken.

Generell gilt für James Reinekings Skulptu­ren: Sie entfalten sich aus der Fläche in den Raum hinein, greifen in ihn ein und verwan­deln seine Leere in immaterielle plastische Präsenz. Ganz selbstverständlich und wie nebenbei nehmen hier elementare geometri­sche und physikalische Gesetzmäßigkeiten Form an. Daß dies vollkommen undidak­tisch geschieht, steht außer Frage, denn nicht die nüchterne, wissenschaftliche Demon­stration logischer Zusammenhänge ist das Ziel dieser Arbeiten, sondern umgekehrt dient die logische Ordnung als ein Hilfsmittel zur Erlangung größtmöglicher künstleri­scher Freiheit und Spontaneität. Dies mag widersprüchlich klingen, aber schließlich sind es gerade die Widersprüche, die die Spannung in Reinekings von ihm selbst so bezeichneten „ordentlichen Chaos“(5) we­sentlich bedingen.

Anmerkungen
(1) Gottfried Boehm, Plastik und plastischer Raum. in: Ausstellungskatalog „Skulptur Ausstellung in Münster 1977“, S.29
(2) ebda., S.28
(3) Gordon McConnell. An Interview with James Reineking. in: Faltblatt anläßlich der Aufstellung der Skulptur Rim" im Yellowstone Art Center Billings Mt. (USA) 1988
(4) Auszug aus: Max Imdahl u. Norbert Ku­nisch, Plastik - Antike und moderne Kunst der Sammlung Dierichs in der Ruhr-Univer­sität Bochum. Kassel 1979. Abgedruckt in: James Reineking - Skulpturen. Ausstellungskatalog der Kunsthalle Bielefeld, Bie­lefeld 1980, S.8
(5) Ralf Dank. Ein Gespräch mit James Reineking, in: James Reineking. Ausstellungskatalog der Städtischen Galerie Lüdenscheid und der Galerie Karsten Greve, Lüdenscheid und Köln 1989. S. 52


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