Zu den Wand- und Bodenstücken Alf Schulers


Die Ausstellung mit Wand- und Bodenstücken des in Köln lebenden Plastikers Alf Schuler bietet Anlaß zu einem Rückblick auf die Entwicklung, die sich in der Plastik seit etwa Mitte der sechziger Jahre vollzogen hat. Unschwer wird man feststellen, daß der auf sich selbst bezogene Formalismus, mit dem die Minimal Art das Ideengut des Konstruktivis­mus bis hart an die Grenze seiner Materialisierbarkeit geführt hatte, gegen Ende des Jahr­zehnts von neuen, zunächst kaum spürbaren Tendenzen abgelöst wurde. Nachdem unum­stößlich feststand, daß eine Form eine Form eine Form.... ist, galt es nun herauszufinden, wie man z.B. eine Form auflösen kann, ohne sie zu zerstören; oder wie man Formen ver­ändern und einander zuordnen kann, ohne sie ihrer Identität mit sich selbst zu berauben. Auch die Vermittlung der sinnlichen Wahrnehmung einer Form als Raumkörper gehörte zu den Aufgaben, denen sich viele Bildhauer zu Beginn der siebziger Jahre zuwandten. Im Katalog zur „Documenta 6“ schrieb Manfred Schneckenburger 1977: „Pointiert: Die Pla­stik der 70er hat die Tendenz, Physik zu sein. Dazu gehört die neue Bedeutung von Ge­wicht und Ponderation anstelle von Volumen und Hohlraum... Zahlreiche Werke variie­ren auf eine ganz fundamentale, funktionale Weise das alte Thema des Kontrapostes und machen es zum Inhalt der plastischen Untersuchung... Körpererfahrung als Grundzug in der Plastik der 70er Jahre zielt... nicht nur auf die elementaren Resonanzen des Gleichge­wichtsgefühls und seiner Irritation, sondern fordert, ganz konkret, den körperlichen Um­gang mit der Plastik.“ (1) Viele der damals ausgestellten Arbeiten von Künstlern wie bei­spielsweise Wolfgang Nestler, Nigel Hall, Michael Gitlin, Reiner Ruthenbeck oder auch Klaus Rinke führten die formale und inhaltliche Variationsbreite, die diese neue, über den Minimalismus hinausgewachsene Art der bildhauerischen Auseinandersetzung ermög­lichte, plastisch vor Augen.

Auch der damals 34jährige Alf Schuler war auf der „Documenta 6" vertreten mit einer Arbeit aus acht Nägeln und einer langen, schwarzgefärbten Schnur. Je vier der Nägel waren so in der Wand befestigt, daß die darauf ruhende, locker durchhängende Schnur vier großzügige, parallel übereinander verlaufende Kreissegmente beschrieb. Was auf den er­sten Blick wie eine filigrane, sehr exakte Wandzeichnung anmutete, entpuppte sich bei nä­herem Hinsehen als überaus spannungsvoller und materialbewußter Zustand zwischen Li­nie, Fläche und Raum. Den Maßgaben des Künstlers folgend, hängen sich Schulers Schnurstücke nämlich gewissermaßen von selbst; nicht der Künstler, sondern das Eigenge­wicht der Schnur bestimmt die letztendliche - und einzig mögliche - Gestalt der Arbeit.

Alf Schulers Schnurstücke markieren eine Entwicklungsstufe innerhalb eines um­fangreichen plastischen Werkes, an dem der Künstler seit etwa 1973 mit einer Kontinuität und inneren Logik arbeitet, die gerade angesichts der fast schon programmatischen Orien­tierungslosigkeit des gegenwärtigen Kunst-Szenarios ihresgleichen sucht. Schulers Aus­einandersetzung mit dem Phänomen Raum - und untrennbar damit verbunden mit der Re­zeption von räumlichen Gegebenheiten - setzt etwa 1969 ein mit Graphitbildern von illu­sionistisch aufgefaßten stereometrischen Körpern und Situationen. Ein erster entscheiden­der Schritt führt 1972 aus dem festgelegten Format der Leinwand heraus direkt auf die weiße Wandfläche, die vom bloßen Bildträger zum bestimmenden Bestandteil der Arbei­ten avanciert. Seither haben sich Schulers plastische Ideen konsequent aus der Fläche ge­löst und in den Raum hineinbegeben, um sich schließlich - in Gestalt der seit etwa 1981 ent­stehenden Bodenstücke - vollends von der Wand zu emanzipieren. Schulers jüngstes Schaffen reflektiert die einzelnen Phasen des bislang durchlaufenen Prozesses, und was zu­nächst, wie beispielsweise das „abgewinkelte Rohr mit gefärbtem Tuch“ von 1987, wie ein Schritt zurück zu den frühen Tucharbeiten erscheinen will, darin verbirgt sich tatsächlich die Komplexität von Schulers gesamtem Werk in ihrem vollen Umfang.

Von den frühen Leinwand-Zeichnungen bis hin zu den jüngsten Bodenstücken zeichnen sich Schulers Arbeiten zum einen aus durch ihre auf klare geometrische Grundmuster reduzierte Formensprache, zum anderen durch die Einfachheit der Materialien Kreissegmente, Drei- oder Vierecke werden gebildet von Rohren, Schnüren, Stahlplatten oder Holzbrettern, und manchem mit Schulers Werk unvertrautem Betrachter mag die Nüchternheit, die diese Arbeiten zweifellos ausstrahlen, bei flüchtiger Betrachtung spröde, womöglich gar simpel vorkommen. Daß aber Alf Schulers Kunst keineswegs zu der - im übrigen sowieso höchst zweifelhaften - Sorte gehört, die sich bereits auf den ersten Blick erschließt, das wird jeder schnell bemerken, der weitere Blicke wagt, um in das vielschichtige Gefüge seiner Ideen- und Formenwelt einzudringen.

Zum besseren Verständnis von Schulers Arbeiten sei es erlaubt, einzelne Stücke gewissermaßen zu sezieren und in die verschiedenen Ebenen zu zerlegen, die sich in dieser Werken zu komplexen Ganzheiten miteinander verschränken. Augenfällig ist zunächst das Verhältnis von Linie, Fläche und Raum, welches sich als konstantes und zugleich vielfach variiertes Grundmotiv durch Schulers gesamtes Schaffen hindurchzieht. Die zweidimensionale Illusion von räumlicher Tiefe - und damit zugleich unsere zwanghafte Veranla­gung, unter bestimmten perspektivischen Bedingungen Raum auch dort zu sehen, wo er in Wirklichkeit gar nicht vorhanden ist - war das Thema von Schulers frühen Leinwandbildem, die der Künstler schichtenweise mit Kohle- und Graphitstaub bearbeitete. Bedingt durch die noch eher malerischen Binnenstrukturen der zu vorgetäuschten Stereometrien zusammengefügten Quadrate, Rechtecke, Trapeze oder Dreiecke, zwingen diese Darstel­lungen das betrachtende Auge, ständig zwischen zweiter und dritter Dimension hin- und herzuspringen. Die bewußte Irritation der optischen Wahrnehmungen, auf die diese Arbeiten ganz offensichtlich angelegt sind, gibt bereits die Richtung vor, in die sich Schulers Werk weiterentwickelt hat; zugleich aber läßt sich von hier aus eine Linie zurückverfolgen zum Werk eines Künstlers, dem noch heute Schulers besondere Wertschätzung gilt. Die Rede ist von Josef Albers, dessen „Strukturale Konstellationen" ihre verblüffende Wirkung daraus ableiten, daß sie Raum und Fläche zugleich sind. Im selben Moment nämlich, in dem der Betrachter eine bestimmte Konstellation als räumlich erkennt, wird diese eines räumlichen Widerspruchs überführt – „womit die Moral der Geschichte klar wird: solch vielfältige räumliche Erscheinung, bzw. Lesung, nur in 2 Dimensionen existiert und nicht in 3dimensionaler Wirklichkeit (2), ein Satz, der auch auf das Werk von Alf Schuler angewendet Gültigkeit hat.

Schuler gelingt eine Weiterentwicklung seines illusionistischen Raumkonzeptes mit seinen direkt auf die Wand applizierten, rautenförmigen Rastern aus Leinwand- oder Teppichstreifen, die noch enger als die frühen Bilder anknüpfen an die visuellen Untersuchungen von Josef Albers. Die raumverändernde Wirkung dieser geometrischen Wandfiguren, die einfache weiße Wände in imaginäre Räume zu verwandeln vermögen, beruht auf der simplen, in unserem Wahrnehmungssystem verankerten Tatsache, daß wir spitzwinklige Vierecke im allgemeinen als orthogonale plastische Körper aufzufassen neigen. Hinzu kommt die scheinbar mit Veränderung des Betrachterstandpunktes sich vollziehende Bewegung dieser gerasterten Wände.

Spätestens hier schiebt sich, als zweite wichtige Ebene in Schulers Werk - zur noch eher verhalten - die des Materials ins Geschehen. Hatten schon die z. T. tiefschwarzen, in die Leinwände eingeriebenen Kohle- und Graphitschraffuren der Bilder Schuler geprägtes stoffliches Interesse bekundet, so besitzen seine textilen Wandapplikationen haptische Qualität, die deren perspektivische Plastizität um den Materialaspekt erweitert. Wenn Alf Schuler in einem nächsten Arbeitsschritt große, rechteckige Baumwolltücher bezeichnet, bemalt oder mit Schnüren versieht, so drängt sich unvermeidlich die Assoziation Bild auf, womit diese Arbeiten aber, wie sich schnell herausstellt, lediglich das viereckige Format gemeinsam haben. Denn nicht die Ränder der Stoffbahnen, sondern die ihrerseits wiederum raumabhängige Wand selbst bestimmt die Begrenzung der jeweiligen Tuchar­beit. Fläche wird hier z. T. mit malerischen Mitteln vorgetäuscht, z.T. ist sie mit ihrem Ma­terial - dem Tuch - identisch; Linie existiert als Zeichnung ebenso wie als reales, von einem Schnurstück gebildetes graphisches Objekt. Bezeichnenderweise entscheidet nicht der Künstler, sondern die Schwerkraft über den Verlauf der Schnur wie auch der gezeichneten Wiederholung - ein Phänomen, welchem Schuler mit seinen bereits erwähnten, gänzlich auf ihre graphische Erscheinung reduzierten Schnurstücken weiter auf den Grund geht.

Prägnante Beispiele für die Abhängigkeit einer Form vom umgebenden Raum einer­seits und von dem spezifischen Charakter der verwendeten Materialien anderseits liefert die ebenso umfang- wie abwechslungsreiche Werkgruppe der Rohr-Schnur-Stücke, die ab 1976 entstehen. Ähnlich wie in den reinen Schnurarbeiten existiert auch hier die Fläche als nurmehr imaginäres, einzig durch den graphischen Verlauf der Rohre und Schnüre umris­senes Feld. Mit der Auflösung der Fläche geht eine abermals verstärkte Hinwendung zum Material einher, dessen physikalische Eigenschaften nun nicht mehr nur die jeweils eigene Gestalt bestimmen; zentraler Untersuchungsgegenstand ist vielmehr die Reaktion, die zwei verschiedene Werkstoffe unter bestimmten, vom Künstler festgelegten formalen Vor­gaben miteinander eingehen. Bei den Rohr-Schnur-Stücken sind es die schweren, unflexi-blen Rohre, von deren Länge Gestalt und Ausmaß der betreffenden Arbeit abhängen. In den rechtwinkligen Stücken bilden horizontal ausgerichtete Rohre gleichsam das Lot, von welchem die Schnur vertikal gestrafft wird. Ihren Ruhepunkt erlangen die Rohre bei größt­möglicher Spannung der Schnur. Obgleich die ovalen Rohr-Schnur-Arbeiten auf demsel­ben Prinzip basieren, vermitteln sie einen amorphen Eindruck, der der Strenge ihrer ortho­gonalen Pendants entgegenläuft. Je nach Raumbeschaffenheit und Betrachterstandpunkt können diese spannungsreichen Gebilde schwer oder schwebend, unruhig oder ausgegli­chen erscheinen.

Spannung lautet das Stichwort, unter dem Schulers Rohr-Schnur-Stücke ab 1979 von der Wand weg in den realen Raum hineinzudrängen beginnen. Wieder sind es an und für sich simple, diesmal physikalische Gesetzmäßigkeiten, welche Alf Schuler zu verblüffen­den künstlerischen Lösungen zu führen versteht. Daß sich der Schwerpunkt eines Gegen­standes verlagert, wenn dieser unter Spannung steht, ist ein mechanischer Lehrsatz, den Schuler auf höchst subtile Weise visualisiert. Lange, z.T. über vier Meter messende Stahl­rohre, deren abgewinkelte Enden auf zwei Nägeln ruhen, werden von einer durch sie hin­durchgezogenen Schnur so unter Spannung gesetzt, daß sie sich von der Wand abstehend stabilisieren. Das auf den einzig möglichen Ruhepunkt hin ausbalancierte Spiel der Kräfte, welches Schuler hier thematisiert, bewirkt den raumgreifenden, quasi schwebenden Zu­stand dieser Arbeiten und täuscht Schwerelosigkeit vor, so, als hätte der Stahl auf myste­riöse Weise sein Gewicht verloren.

Die in den Raum hineindrängende Tendenz der Wandstücke findet ihre konsequente Fortsetzung in den gänzlich raumbestimmten - und raumbestimmenden - Bodenstücken. Auch in diesen umgehbaren, dicht am Boden befindlichen Arbeiten bleibt das Wechselspiel von Spannung, Schwerpunkt und Balance das funktionale Leitmotiv. Der plastische Raum, den diese Bodenarbeiten durch wenige prägnante Linien zum Leben erwecken, ver­weist auf das konstruktivistische Erbe, dem Schulers Werk zweifellos verpflichtet ist, und erinnert an den Hohlraum als konstitutives Element bei Künstlern wie z. B. Naum Gabo oder seinem Bruder Antoine Pevsner Während die frühen Bodenstücke den Gedanken von Spannung im Raum zunächst noch sehr sparsam und konzentriert auf den Punkt brin­gen, entfaltet sich in den jüngeren Arbeiten eine für Schuler ungewöhnliche Farbigkeit und Unruhe. Auf breiten, geschwungenen Stahlbändern liegen bis zu zehn Rohre auf, deren Spannung nun nicht mehr von Schnüren, sondern von eingefärbten Gurtbändern hervorgerufen wird. Fast scheint es, als werde der Raum zwischen den unregelmäßig gegeneinan­der verschobenen, sehr labil wirkenden Rohrstücken in nervöse Schwingungen versetzt. Schulers Räume - so der Künstler in einem kürzlich erschienenen Interview – „sind keine wirklichen Räume, sie sind gedankliche Räume.“ (3)

Bei aller Berücksichtigung optischen physikalischer oder wahrnehmungspsycholo­gischer Gesetzmäßigkeiten geht das Oeuvre von Alf Schuler doch weit über die bloße, ma­thematisch-nüchterne Veranschaulichung solcher Erscheinungen hinaus. Das komplexe Verhältnis von Linie, Fläche und Raum, die physische Präsenz und physikalische Funk­tion der Materialien, Probleme von Spannung und Schwerkraft, Farbigkeit und nicht zu­letzt die Spiegelung der genannten Phänomene in unserer allzu leicht in die Irre zu führen­den Wahrnehmung - all diese Faktoren sind Bestandteile eines Werks, welches dennoch weit mehr beinhaltet als die Summe seiner Einzelteile. Alf Schuler ist ein unermüdlicher Experimentator, ausgestattet mit einem hochsensiblen Gespür für die noch so geringfügi­gen Veränderungen. So gesehen mag man seine Wand- und Bodenarbeiten der jüngeren Zeit als symptomatisch ansehen für sein gesamtes Werk; denn erst, wenn sich eine Arbeit auf dem einen und einzig möglichen Punkt eingependelt hat, ist die Stimmigkeit erreicht, durch die ein Stück zu einem Kunst-Stück wird.
(1) Manfred Schneckenburger, „Kurze Thesen zur Plastik der 70er Jahre", in: Katalog documenta 6, Band 1, S. 148
(2) Josef Albers, in: Francois Bucher / Josef Albers: Trotz der Geraden, Bern 1961, S. 38
(3) Alf Schuler in einem Inter­view mit Ralf Dank, in: Kunst Köln, erscheint im November